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Sommer wie Winter

Sommer wie Winter

Titel: Sommer wie Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith W. Taschler
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gewöhnt, dass da ein fremdes Kind am Tisch sitzt.
    Nach zehn Jahren haben wir nicht mehr an eine Adoption gedacht, es ist kein Thema mehr zwischen dem Toni und mir gewesen, weil inzwischen der Andreas auf der Welt gewesen ist. Nicht, weil wir den Alexander nicht adoptieren hätten wollen, wir haben’s einfach mit der Zeit vergessen.
    Vierundvierzig bin ich gewesen, da bin ich noch einmal schwanger geworden. Der Toni ist so glücklich über den Andreas gewesen!

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Therapiegespräch im Jänner 1990
Dr. Z. und Alexander Sommer
    Was meine schönste Erinnerung ist, wollen Sie wissen? Wie die Li San zum ersten Mal Schnee gesehen hat, das ist – ja, das ist besonders gewesen.
    Die Familie ist im Frühling angekommen und nach den Sommerferien ist sie mit mir und der Manu in die erste Klasse gekommen, obwohl sie schon acht gewesen ist. Aber der Direktor hat gesagt, weil sie schlecht Deutsch spricht, soll sie mit der ersten anfangen. Sie hat auch nicht ausgeschaut wie acht, sie war so klein und dünn. In Kambodscha ist sie keinen einzigen Tag in die Schule gegangen, weil sie auf der Flucht gewesen sind, hat sie uns später erzählt.
    Am ersten Schultag ist sie mit ihrer Mutter und der Frau Stern zur Schule gekommen. Die Mutter hat keinen Rock angehabt, sondern ein langes buntes Tuch umgewickelt, bis zu den Knöcheln, und so komische Sandalen hat sie getragen. Alle haben sie angestarrt. Die Li San hat ein Dirndl angehabt, das ist so ein altes von der Maria Stern gewesen. Sie hat mir gut gefallen im hellblauen Dirndl mit ihrer dunklen Haut und den schwarzen Zöpfen und den weißen Zähnen. Weil wir Nachbarn sind, hat die Stern uns gefragt, ob wir sie ab morgen immer mitnehmen
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zur Schule, wenigstens im ersten Monat, bis sie allein gehen kann.
    Am nächsten Tag sind die Manu und ich zum Stern gelaufen, aber die Li San ist nicht vor der Tür gestanden. Wir haben sie dann allein in der Küche gefunden, die anderen sind noch im Stall gewesen oder irgendwo. Sie hat die Jacke und die Schuhe noch nicht angehabt, und die Schultasche ist am Boden gelegen. Sie ist dagestanden und hat so – irgendwie so verloren ausgeschaut. Hast du schon ein Jausenbrot?, hat die Manu sie gefragt und sie hat den Kopf geschüttelt. Du brauchst aber ein Jausenbrot, hat die Manu gesagt und sie ist zum Tisch gegangen und hat zwei Brotscheiben runtergeschnitten. Was willst du, Marmelade oder Honig?, hat sie die Li San gefragt und eine Scheibe mit Butter beschmiert. Die Li San hat auf einmal die Zuckerdose genommen und hat Zucker auf das Brot geschüttet. Wir haben total blöd dreingeschaut. Sie hat die zweite Scheibe draufgetan und das Brot, ohne irgendein Sackerl oder eine Folie, in die Schultasche gestopft. Dann sind wir in die Schule gegangen.
    Wie es zum ersten Mal in dem Herbst geschneit hat, sind wir schon früher von daheim weg. Wir sind beim Stern in die Küche rein und haben geschrien: Li San, komm, es hat in der Nacht geschneit! Der erste Schnee im Jahr ist für uns immer was Besonderes gewesen.
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Die Li San ist mit dem Nachthemd am Tisch gesessen und hat allein gefrühstückt. Sie ist mit uns hinausgelaufen und bei der Tür ganz plötzlich stehen geblieben. Den Schnee hat sie angeschaut, als wäre er etwas Schreckliches, sie ist richtig erschrocken, weil alles so weiß gewesen ist. Dann ist sie ganz langsam die Stufen runtergegangen, in den Schnee hinein. Sie hat sich gebückt und ihn angegriffen und auf ihr Gesicht getan, sie hat ihn auch gegessen. Dann hat sie gelacht und im Schnee getanzt, barfuß, und wir haben dann auch mitgetanzt. Zur Schule sind wir zu spät gekommen.
    An das habe ich jahrelang denken müssen, wie sie so im Nachthemd barfuß im Schnee tanzt, die Arme zur Seite ausgestreckt und das Gesicht zum Himmel gehoben, und ihre Augen haben geglänzt.

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Therapiegespräch im Jänner 1990
Dr. B. und Martina Winter
    Es war Ende November, als der Alexander zu uns gekommen ist, und im Dezember wurde er dann drei. Er hat am 24. Dezember Geburtstag, und weil das eine stressige Zeit für die Eltern ist – wegen Weihnachten und das Haus ist ja voller Gäste –, haben wir seinen Geburtstag eigentlich nie an dem Tag gefeiert. Seinen ersten Geburtstag bei uns, also seinen dritten, haben die Eltern überhaupt vergessen. Am Abend unter dem Christbaum hat die Anna gefragt: Hat heute nicht der Alexander Geburtstag? Das war ihnen dann vor den Gästen peinlich, und ein Gast, der Koschuth war das, glaube ich, hat dem Alexander etwas

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