Sommer wie Winter
lebendiger wird. Ich habe dann wochenlang die Zettel mit mir rumgetragen und habe es auswendig gekonnt. Ja, ich kann es immer noch auswendig. – Doch, ich möchte über sie erzählen.
Paulina hat keine Familie in Innsbruck gehabt und keine Verwandten, nur ein paar Bekannte und das sind die Arbeitskollegen gewesen im Hotel Europa, wo sie als Zimmermädchen gearbeitet hat. Das sind auch die Einzigen gewesen, die zu ihrem Verschwinden vernommen worden sind. Alle haben gesagt, dass sie oft vom Auswandern geredet hat. Sie hat nach Kalifornien wollen, wo ein alter Freund ihrer Mutter gelebt hat, der hat sie eingeladen.
Paulina ist im Mai 1950 in Steinach am Brenner geboren worden. Ihr Vater, der hat Paul geheißen, der ist ursprünglich aus dem Burgenland gewesen
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und wegen der Arbeit nach Tirol gekommen. Er ist nämlich Straßenbauarbeiter gewesen, er hat beim Bau der Europabrücke mitgearbeitet und ist dabei tödlich verunglückt, da ist meine Mutter neun gewesen. Ihre Mutter hat Alessandra geheißen, sie ist aus Süditalien gekommen, aus Bari. Sie war sieben Jahre älter als ihr Mann, sie ist bei der Hochzeit schon über vierzig gewesen. Wie sie jung gewesen ist, ist Alessandra als Sängerin aufgetreten, meistens für die Soldaten, sie hat eine sehr gute Stimme gehabt, die hat meine Mutter dann von ihr geerbt. Paul und Alessandra haben sich bei einem Urlaub kennengelernt und sich verliebt. Obwohl sie nicht damit gerechnet haben, weil sie schon älter gewesen sind, haben sie ein Jahr später eine Tochter bekommen und haben sie Paulina genannt, nach ihrem Vater.
Alessandra ist nicht glücklich gewesen in Steinach. Die langen Winter haben ihr zu schaffen gemacht und viele haben sie richtig angefeindet, weil sie Italienerin war, ja, genau, wegen der Südtirolsache. Ein paar Jahre nachdem der Mann gestorben ist, ist sie deswegen mit Paulina zurück nach Bari gegangen und wie sie mit sechzig gestorben ist, ist Paulina nach Tirol zurückgekommen. Da ist sie gerade achtzehn gewesen. Sie hat nur ein paar Lire gehabt, eine kleine Reisetasche und einen Brief vom Chef im Hotel Europa, dass sie als Zimmermädchen
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anfangen kann. Sie hat also im Hotel Europa als Zimmermädchen angefangen, gewohnt hat sie mit drei anderen Mädchen in einem winzigen Personalzimmer.
Der Angermair hat eine Beschreibung von meiner Mutter vorgelesen, die hat damals ihr Chef gemacht. Ich kann sie immer noch auswendig: »Sie hat sehr gut ausgesehen und die Männer haben ihr nachgeschaut, sie war mittelgroß, schlank, aber nicht mager, sie hat schöne Kurven gehabt, dicke schwarze Haare, symmetrisches Gesicht. Die Arbeitskolleginnen waren alle neidisch auf sie und haben sie nicht besonders mögen.« So hat ihr Chef sie beschrieben.
Paulina hat sehr gut italienische Schlager singen können, weil ihre Mutter viel mit ihr gesungen hat. Und weil der Chef sie einmal gehört hat, hat sie die Gelegenheit bekommen, am Samstagabend in der Hotelbar zu singen. Der Abend ist aber dann ein Reinfall gewesen. Weil Paulina nur italienisch gesungen hat, ist sie von den Gästen ausgepfiffen und als »Walsche« beschimpft worden, die sich heimschleichen soll. Paulina hat stundenlang geweint. Der Chef hat ihr später nahegelegt, dass sie deutsche und eventuell auch französische Schlager lernen soll.
Kurze Zeit darauf wollte Paulina unbedingt ein eigenes Zimmer mieten, weil sie sich mit den Kolleginnen nur gestritten hat, und irgendjemand aus der Küche hat ihr von dem ausgebauten Dachboden
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über der Werkstatt am Fürstenweg erzählt. Sie ist so begeistert gewesen von dem großen Raum, sie hat ihn originell gefunden, obwohl keine richtige Heizung drinnen gewesen ist und sie elektrisch heizen hat müssen. Sie ist sofort eingezogen und hat es sich gemütlich eingerichtet. Dort in dem Haus hat sie ihre Ruhe gehabt, nur am Tag hat der Vermieter in der Werkstatt gearbeitet, der ist ihr ab und zu auf die Nerven gegangen, sonst ist sie dort ganz allein gewesen, das hat ihr so gefallen.
Kurze Zeit später muss sie ihren Freund kennengelernt haben, aber nie hat ihn jemand zu Gesicht bekommen und Paulina hat kaum über ihn geredet, das ist eine ganz heimliche Beziehung gewesen. Es war irgend so ein reicher Unternehmer aus Deutschland und mit Vornamen hat er Thomas geheißen, mehr haben die Arbeitskollegen nicht gewusst. Die Polizei hat ihn nach ihrem Verschwinden nicht gefunden und er hat sich auch nicht gemeldet. Der Angermair hat gesagt, das weiß ich noch genau:
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