Sommerbuch
den Deckeln eines Buches sein, plattgedrückt oder zerquetscht, denn so ist es nun einmal, kriechende Tiere, kaputte Tiere und tote Tiere begleiten einen von Anfang bis Ende, durch das ganze Leben. Die Großmutter versuchte über die Sache zu reden, es gelang ihr aber nicht. Dem Schrecken, den man nicht erklären kann, ist schwer abzuhelfen. Eines Morgens war eine fremdartige Zwiebel ans Ufer geschwemmt, die vor dem Gästezimmer in die Erde gesetzt werden sollte. Sophia trat ihren Spaten in die Erde, um ein Loch zu graben, der Spaten schnitt einen Angelwurm entzwei, und sie sah, wie die beiden Hälften sich in der schwarzen Erde wanden. Sie warf den Spaten weg und ging rückwärts zur Hauswand hin und schrie.
»Die wachsen wieder und werden genauso groß wie vorher«, sagte die Großmutter. »Ganz bestimmt! Sie werden genauso groß. Es macht nichts, glaub es mir !«
Während sie die Zwiebel in die Erde drückte, redete sie weiter über Angelwürmer, und Sophia beruhigte sich, sie war immer noch ganz blaß. Sie saß mit angezogenen Beinen auf der Verandatreppe und schwieg.
»Ich glaube«, sagte die Großmutter, »ich glaube, für Angelwürmer hat sich niemand wirklich interessiert. Wer sich wirklich interessiert, müßte ein Buch über sie schreiben .«
Abends fragte Sophia, ob »Leute« mit eu oder äu geschrieben werde.
»Mit eu «, sagte die Großmutter.
»Aus dem Buch wird nichts«, sagte Sophia wütend. »Ich kann nicht denken, wenn ich die ganze Zeit auf Rechtschreibung aufpassen muß. Ich vergesse, wo ich war, und alles wird nur Mist .« Das Buch hatte viele Seiten, auf dem Rücken war es zusammengenäht. Sie warf es auf den Boden.
»Wie heißt es ?« fragte die Großmutter.
»Abhandlung über halbierte Angelwürmer. Aber es wird nichts .«
»Setz dich hin und diktiere mir, was ich schreiben soll. Wir haben doch so viel Zeit. Wo habe ich nun wieder meine Brille hingelegt...«
Der Abend war besonders günstig, um ein Buch anzufangen. Die Großmutter schlug die erste Seite auf, durch das Fenster fiel noch genug Licht vom Sonnenuntergang. Eine Vignette von einem Angelwurm, der entzweigegangen war, gab es bereits. Das Gästezimmer war ruhig und kühl, und hinter der Wand saß der Vater und arbeitete.
»Wenn er arbeitet, ist immer alles gut«, bemerkte Sophia. »Dann weiß ich, daß es ihn wirklich gibt. Lies mal, was ich geschrieben habe .«
»»Erstes Kapitel««, las die Großmutter. »Es gibt Leute, die mit Würmern angeln .«
»Zwischenraum. Und jetzt sollst du weiterschreiben: Ich will keinen Namen nennen, aber Vater ist es nicht. Wenn man sich also einen Angelwurm vorstellt, und der hat Angst, dann zieht er sich zusammen bis... Wieviel zieht er sich zusammen ?«
»Zum Beispiel bis zu einem Sechstel seiner Länge.«
»Zum Beispiel bis zu einem Sechstel seiner Länge. Dann wird er klein und dick, und dann ist es leicht, ihn aufzuspießen, und das hatte er sich nicht vorgestellt. Wenn man aber annimmt, der Wurm wäre klug, dann würde er sich so lang wie möglich machen, damit man ihn nicht aufspießen kann, und dann geht er ab. Die Wissenschaft weiß noch nicht, ob er nur entzweigeht oder ob er schlau ist: man kann nämlich nicht immer wissen...«
»Einen Augenblick«, sagte die Großmutter. »Soll ich schreiben: »Ob es daran liegt, daß er nicht zusammenhält oder daß er klug ist ?« «
»Schreib irgendwas«, sagte Sophia ungeduldig. »Wenn man es nur versteht. Du darfst mich aber nicht stören! Los, weiter: Er weiß sehr wohl, daß, wenn er entzweigeht, beide Teile allein weiterwachsen. Zwischenraum. Aber wir wissen nicht, wie weh das tut. Und wir wissen auch nicht, ob der Wurm Angst hat, daß es weh tun könnte. Auf alle Fälle fühlt er, daß die ganze Zeit etwas Spitzes immer näher auf ihn zukommt. Das ist Instinkt. Im übrigen möchte ich dir folgendes sagen: Es ist nicht fein, zu behaupten, daß er wirklich klein ist oder daß er nur einen Verdauungskanal hat und daß es deswegen auch nicht weh tut. Ich bin ganz sicher, daß es weh tut, aber vielleicht nur eine Sekunde lang. Jetzt denke ich an den klugen Wurm, der sich lang macht und dann in der Mitte entzweigeht. Das könnte zum Beispiel sein, als ob man einen Zahn herauszieht, nur daß es nicht weh tut. Nachdem er dann seine Nerven beruhigt hat, fühlt der Wurm sofort, daß er also kürzer geworden ist. Daraufhin erblickt er die andere Hälfte gleich neben sich. Damit das alles etwas leichter zu verstehen ist, sage ich es so: Beide
Weitere Kostenlose Bücher