Sommerbuch
mit ausgebreiteten Armen entgegen und rief: »Liebe alte Freundin, daß du noch lebst !«
»Wie du siehst«, sagte die Großmutter trocken und ließ sich umarmen. Sie bedankte sich für die Flasche, und er sagte: »Wie du siehst, habe ich es nicht vergessen. Dieselbe Marke wie 1910.«
Wie blöd, dachte sie. Warum habe ich nie zu sagen gewußt, daß ich nichts Scheußlicheres kenne als Sherry?
Dann war es zu spät gewesen. Es war wirklich schade, wenn man daran dachte, daß sie endlich das Alter erreicht hatte, in dem man in aller Ruhe die Wahrheit in bezug auf kleinere Dinge sagen konnte.
Sie nahmen die Barsche aus dem Fischkasten und aßen etwas früher als gewöhnlich.
»Prosit«, sagte Werner ernst und nickte der Großmutter zu. »Auf das Land unserer letzten Jahre und die letzten Tage des Sommers, die wir erleben dürfen! Es wird still um einen herum, jeder geht seine eigenen Wege, aber vor dem Meer bei einem friedlichen Sonnenuntergang sehen wir uns alle wieder .«
Sie tranken nur sehr wenig von dem Sherry.
Die Großmutter sagte: »Mag sein. Allerdings ist zum Abend Wind angesagt. Wie viele PS hast du ?«
»Drei«, riet Sophia.
»Vier und einhalb «, sagte Werner kurz. Dann nahm er ein Stückchen Käse und schaute durch das Fenster.
Die Großmutter begriff, daß er sich verletzt fühlte, und bemühte sich bis zum Kaffee so freundlich wie möglich zu sein. Nach dem Essen schlug sie einen Spaziergang zu zweit vor. Sie spazierten den Pfad zu den Kartoffelbeeten entlang, und jedesmal, wenn der Boden uneben war, stützte sie sich auf seinen Arm. Es war sehr warm und ganz still.
»Was machen deine Beine ?« fragte Werner.
»Schlimm«, antwortete die Großmutter herzlich. »Aber an manchen Tagen kann man ganz gut mit ihnen gehen .« Dann erkundigte sie sich danach, was er so treibe.
»Ach, allerlei.« Er war immer noch beleidigt.
Plötzlich sagte er heftig: »Und Backmansson ist nicht mehr da .«
»Wo ist er denn ?«
»Er ist nicht mehr unter uns«, erklärte Werner empört.
»Ach so, er ist gestorben«, sagte die Großmutter.
Sie dachte an alle Umschreibungen für den Tod und seine ängstlichen Tabus. Sie hatte sich immer dafür interessiert. Schon schlimm, daß sich über diese Sache nie ein intelligentes Gespräch zustande bringen ließ. Entweder war man zu jung oder zu alt, oder man hatte keine Zeit.
Jetzt berichtete er von noch jemandem, der verschieden war, und über den unfreundlichen Verkäufer im Geschäft. Und überall würden häßliche Häuser gebaut werden, und die Leute legten an Ufern an, ohne vorher zu fragen; aber die Entwicklung gehe ja weiter, natürlich!
»Das ist doch Geschwätz«, sagte die Großmutter, blieb stehen und drehte sich zu ihm hin. »Daß immer mehr Leute dieselben albernen Dinge treiben, darüber kann man sich doch nicht mehr aufregen! Entwicklung, das ist etwas ganz anderes, das weißt du. Umwälzung, große Veränderungen!«
»Liebe Freundin«, sagte Werner rasch, »ich weiß, was du jetzt sagen willst. Verzeih, wenn ich dich unterbreche, aber du wirst mich jetzt fragen, ob ich denn nie Zeitung lese !«
»Gewiß nicht«, rief die Großmutter aus, äußerst unangenehm berührt. »Ich wollte nur fragen, ob du denn gar nicht neugierig bist. Oder zum Beispiel erschüttert oder ganz einfach fassungslos.«
»Nein, eigentlich nicht«, antwortete Werner aufrichtig. »Irgendwann mal war ich sicher erschüttert. Und das war genug .«
Seine Augen sahen betrübt aus, er sagte: »Dir kann man’s nur schwer recht machen! Warum benutzt du so schwierige Wörter. Ich erzählte doch nur, was los ist .«
Sie gingen an dem Kartoffelfeld vorbei und kamen an die Strandwiese.
»Das hier ist eine richtige Pappel«, sagte die Großmutter und lenkte ab. »Sie hat einen Wurzelsproß, wie du siehst. Ein Freund von uns hat aus Lappland echten Schwanenmist mitgebracht, das mochte der Baum .«
»Wurzelsproß«, wiederholte Werner.
Er war eine Weile still und fuhr dann fort: »Es muß ein großer Trost für dich sein, mit deinem Enkelkind zusammenzuleben !«
»Hör doch auf damit«, sagte die Großmutter. »Hör auf, in Symbolen zu reden, das ist altmodisch. Ich rede von Wurzelsproß, und du bist gleich bei Enkelkindern. Warum benutzt du so viele Umschreibungen und Gleichnisse? Hast du Angst ?«
»Liebe alte Freundin«, antwortete Werner betrübt.
»Verzeih«, sagte die Großmutter. »Dies ist doch alles eine Art von Höflichkeit, ich will dir doch nur zeigen, daß ich dich ernst
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