Sommerflimmern (German Edition)
zuckt zusammen, dreht sich blitzartig um und verstreut dabei eine Ladung Kaffee auf dem Küchenboden.
»Charlie! Was zum …«
Ich stürze mich ihr schluchzend in die Arme, fast fallen wir zusammen um. Ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten.
»Charlie, Schätzchen, was ist los, was ist passiert?!«
Sie drückt mich fest an sich und führt mich dann in ihr Wohnzimmer.
»Warte kurz.«
Sie setzt mich auf dem Sofa ab, verschwindet und kommt mit einem Tablett wieder. Tee, Kekse und Taschentücher. Sie stellt alles auf einen kleinen Tisch, der vor dem Sofa steht und verschwindet ein weiteres Mal.
Ich lege mich auf das Sofa, halte mich an einem dicken bunten Kissen fest und konzentriere mich auf meine Atmung. Anna kommt zurück, zieht mir ein Paar lange weiche Socken über die Füße und legt mir die Patchwork-Decke über, die ihre Großmutter vor Ewigkeiten für sie genäht hat. Erst jetzt bemerke ich, dass ich am ganzen Leib wie verrückt zittere. Um sich setzen zu können, hebt Anna meinen Oberkörper sanft an, legt sich ein Kissen auf den Schoß und meinen Kopf auf das Kissen.
»Leg los.«
Sie reicht mir ein Taschentuch, ich hole noch einmal tief Luft und erzähle alles. Vom ersten Glas Champagner bis zu meiner Flucht im Taxi.
»… Anna, was habe ich getan? Was ist los mit mir?!«
Ich richte mich auf und schaue sie an. »Ich weiß wirklich nicht, was da mit mir los war! Ich konnte keinen klarenGedanken mehr fassen, weil da ein anderer war. Wirklich! In meinem Kopf! Ein einziger Gedanke, der immer lauter und lauter wurde, als würde mich jemand anschreien. Alles, was ich gehört habe, war ›Lauf, lauf, lauf!‹«
Jetzt heule ich richtig los. »Anna … was … was ist los mit mir? Werde ich jetzt verrückt?! Ich … ich –«
Doch kein weiteres Wort will mir gelingen, ich schluchze, weine, heule Rotz und Wasser. Anna zieht mich zu sich herüber, streicht ruhig und regelmäßig mit Taschentüchern über mein Gesicht, entfernt Rotz und Wasser und wiegt mich dabei sanft in ihren Armen.
»Meine Süße, ist in Ordnung, ich bin bei dir … alles wird gut, ich verspreche es dir …«
Lange sitzen wir so auf ihrem Sofa. Alles, was ich höre, ist der beruhigende Rhythmus ihres Herzschlags und in regelmäßigen Abständen das Poltern und Rumpeln der Trams, die vor Annas Haus ihre festgelegten Bahnen ziehen.
Plötzlich fährt mir der Schreck durch die Glieder, ich richte mich schlagartig auf.
»Anna! Meine Eltern, Alexander, sie wissen nicht, wo ich bin, sie werden sich fürchterliche Sorgen machen! Wie spät ist es!? Ich muss sie anrufen! Ich muss zurück!«
Anna legt mir ihre Hände auf die Schultern und sieht mich gelassen, aber ernst an. Der Klang ihrer Stimme ist ungewohnt bestimmt.
»Charlie. Eins nach dem anderen. Du fährst jetzt nichtzurück. Du bleibst hier bei mir und schläfst dich aus. Ruf deine Eltern kurz an, sag ihnen, dass du bei mir bist und ihr morgen in Ruhe sprechen könnt … und deine Eltern sollen dann Alexander Bescheid geben.«
Anna reicht mir ihr Telefon, meine Hände zittern, ich zögere kurz, bevor ich die Nummer meiner Eltern eingebe.
Mir läuft ein warmer Schauer über den Rücken, als ich die Stimme meine Mutter höre.
»Ja, bitte, hier Wolf?«
»Mama, ich bin’s.«
Stille. Dann kann ich hören, wie sie aufatmet.
»Charlotte. Kind.«
»Mama, es tut mir so leid … ich –«
»Charlotte, beruhige dich, alles wird gut. Sag mir einfach, wo du bist, dann hole ich dich ab.«
»Ich bin bei Anna. Und – und ehrlich gesagt, möchte ich jetzt einfach nur hier schlafen. Wir …«
Ich schaue zu Anna herüber, sie nickt mir aufmunternd zu.
»Wir können morgen über alles reden. Okay, Mama? Morgen komme ich zurück. Ich rufe dich nach dem Frühstück an und dann kannst du mich abholen. Ja?«
Wieder Stille, dann ein tiefer Seufzer. »Gut, Charlotte. Schlaf dich aus. Wir reden morgen. Ich hole dich dann ab.«
Während des Gesprächs hat Anna das Sofa in ein sehr einladend aussehendes Bett verwandelt. Auf die Bettdecke hat sie mir eines ihrer Nachthemden gelegt. Eigentlich istes gar kein Nachthemd, sondern ein überdimensionales Ramones -T-Shirt.
Sie gibt mir einen Kuss auf die Wange. »Ruh dich gut aus, Süße. Und weck mich, falls was ist, okay?«
»Ja, okay, gute Nacht. Und … danke.«
Ich fühle mich erschöpfter denn je, ziehe mich um und schlafe ein, kaum dass ich mich hingelegt habe.
Es ist noch immer dunkel, als ich von meinem eigenen Schrei
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