Sommerglück
dann besann er sich eines Besseren.
Er hatte auf ihr gelegen, und nun stützte er sich auf seine Arme, blickte sich um. Das Boot schaukelte heftig auf und ab, und der Wind blies ihm die Haare aus der Stirn. Er sah aus wie ein wilder Klabautermann, und in dem Moment war Bay bewusst geworden, wie verschieden sie in Wirklichkeit waren. Die Erkenntnis versetzte ihr einen Schock, aber es gelang ihr, sie zu verdrängen und tief in ihrem Inneren zu vergraben.
Sean hatte sich immer gewünscht, eines Tages reich zu sein und sein altes Leben weit hinter sich zu lassen. Bay war immer glücklich mit dem gewesen, was sie hatte, und sie liebte ihr Zuhause mehr als alles andere auf der Welt.
Mit wachsender Verzweiflung fragte sie sich jetzt, ob darin die Erklärung für sein Verschwinden lag, am Abend vor dem längsten Tag des Jahres, so viele Sommer später. Sean hatte wieder zu seinen alten Tricks gegriffen, befand sich auf einem Höhenflug, war der Sonne zu nahe gekommen.
Sie kehrte zum Picknicktisch zurück. Billy und Peg saßen dort und verschlangen ihre Burger. Doch Annies Platz war leer.
Annie McCabe stand im Zimmer ihrer Eltern, genau in der Mitte des blau-weißen Teppichs, und wusste, dass etwas nicht stimmte. Sie spürte es in ihrem Herzen, wo sie alles registrierte, was wichtig war. Sie hatte es schon in der Minute geahnt, als Pegs Anruf kam – der Ausdruck in den Augen ihrer Mutter, ihre niedergeschlagene, verzweifelte Miene, die sie an die schrecklichen Monate im letzten Winter erinnerten, sprachen Bände.
Während Annie langsam den Raum durchquerte, fiel ihr Blick auf den Schreibtisch ihres Vaters. Sie musterte die gerahmten Fotos, die dort standen: von Mom, Billy, Peg und Annie, und von Dads altem Hund Lucky. Ein Boston Terrier, eine Kreuzung zwischen Bulldogge und Bullterrier, klein, glatthaarig und weiß, mit braunen Flecken. Als ihr Dad zwölf war – in Annies Alter –, hatte er Lucky in einer Gasse in Hartford gefunden. Er hatte dem ausgesetzten Hund ein Zuhause gegeben und ihn über alle Maßen geliebt. Annie kamen jedes Mal die Tränen, wenn ihr Vater von ihm erzählte.
Irgendwie fühlte sie sich gleich besser, als sie Luckys Bild auf dem Schreibtisch ihres Vaters betrachtete. Seine Manschettenknöpfe waren auch da: goldene Ovale, mit Monogramm. Er trug sie zum Smoking, wenn er mit Mom groß ausging, und manchmal zu einem besonderen Hemd, wenn ein wichtiger Geschäftsabschluss in der Bank bevorstand oder einer seiner reichen Privatkunden einen Termin bei ihm hatte.
Sie spähte in seinen Schrank. Die wenigsten Mädchen ihres Alters interessierten sich für die Kleidung ihres Vaters. Aber Annie fand es herrlich, mit geschlossenen Augen vor dem Schrank zu stehen und sich vorzustellen, dass ihr Vater sie ganz fest in die Arme nahm.
»Mein Annie-Bärchen«, pflegte er ihr mit seiner tiefen, grollenden Stimme ins Ohr zu flüstern, während er sie wiegte, wie damals, als sie noch klein war und ihr Kopf gerade bis zu seiner Taille reichte. Nun ging sie ihm bis zur Schulter, und manchmal beendete er seine Umarmung mit der geflüsterten Ermahnung, weniger Süßigkeiten und Snacks in sich hineinzustopfen.
Sie stand vor seinem Kleiderschrank, aufgewühlt von ihren Erinnerungen, und beschwor das Bild ihres Vaters anhand seines Geruchs herauf: der Geruch nach Wolle von seinen Anzügen, nach Schweiß von seinen Arbeitstagen in der Bank, nach Maschinenöl von seinem Boot und nach den Ködern, die er bei seinen Angeltouren verwendete. Ihr Magen schmerzte, als sie fieberhaft überlegte, wo er stecken könnte.
Lass ihn nicht bei Lindsay sein. Lass ihn nicht wieder bei ihr sein …
»Annie, was machst du da?«
Als sie die Stimme ihrer Mutter hörte, riss Annie die Augen auf. Bevor sie antworten konnte, läutete das Telefon.
Seufzend eilte ihre Mutter zum Nachttisch. In diesem Seufzer meinte Annie Erleichterung zu entdecken. Wer konnte es schon sein außer ihrem Vater, der anrief, um sich für die Verspätung zu entschuldigen, sich zu entschuldigen, dass er es nicht geschafft hatte, Peg abzuholen, aber er würde in Windeseile zu Hause sein und mit ihnen zum Pirate’s Cove fahren. Annie hätte es selber gerne geglaubt, hätte gerne gelächelt, aber es gelang ihr noch nicht.
Bay, erschrocken bei Annies Anblick, die halb in Seans Kleiderschrank stand, nahm den Hörer ab und bemühte sich, ihrer Stimme einen beruhigenden Klang zu verleihen, damit Annie nicht merkte, wie wütend sie auf Sean
Weitere Kostenlose Bücher