Sommerglück
–«
»Doch. Es muss etwas Schlimmes passiert sein. Er wäre nicht einfach weggegangen, nicht freiwillig. Vielleicht wurde er entführt.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen, Annie.«
»Es muss aber so sein, Mom. Was für einen Grund gäbe es sonst? Er hätte uns nie verlassen!«
»Annie, es kann doch so vieles dazwischen gekommen sein …«
Annie gab einen erstickten Laut von sich. »Du denkst, dass er bei Lindsay ist, oder?«
»Ich weiß es nicht.« Bay streckte die Hand nach ihrer Tochter aus. Lügen sorgten für Verwirrung, benebelten den Verstand und untergruben jeden noch so kleinen Rest von Vertrauen. Bay hatte die Erfahrung gemacht, dass es immer besser war, die Wahrheit zu sagen, wenn es eben ging. Aber bei drei Kindern, die ihren Vater liebten und das Bedürfnis hatten, zu ihm aufzuschauen, war das ein schwieriger Balanceakt.
Annie trat mit wildem Blick einen Schritt zurück. »Ich werde mit dem Rad zum Boot fahren und nachschauen, ob er dort ist!«
»Annie warte – wir fahren gemeinsam hin.«
Aber ihre Tochter war bereits auf und davon. Bay hörte, wie ihre bloßen Füße über den Fußboden flogen, kurz darauf die Tür ins Schloss fiel und die Reifen ihres Fahrrades sirrten, als sie davonbrauste.
Bay schob Seans ledernen Schreibtischsessel zurück und setzte sich. Ohne nachzudenken, griff sie nach dem Hörer und wählte Taras Nummer. Sie blickte aus dem Panoramafenster über die weite, grün-goldene Marsch auf das weiße Cottage. Sie sah, wie Tara im Kräutergarten kniete, die Schaufel fallen ließ und die verwitterten Stufen hinaufeilte.
»Hallo?«, ertönte Taras Stimme nach dem sechsten Klingelzeichen.
»Ich bin’s.«
»Hey, du hast deine Sonnencreme am Strand vergessen. Ich habe sie mitgenommen.«
»Oh, gut.« Nur zwei Worte – und Tara wusste Bescheid.
»Was ist passiert?«
»Die Sonnencreme ist nicht das Einzige, was heute abhanden gekommen ist.«
»Sean ist verschwunden? Und das soll bedauerlich sein?«
»Ach Tara.« Bay gelang es nicht, zu lachen. »Er hat Pegeen versetzt, und Frank hat mich angerufen, weil er eine Besprechung in der Bank verpasst hat … Annie ist außer sich vor Sorge. Sie fährt gerade zu seinem Boot. Sie hofft wohl, dass er zum Fischen rausgefahren ist und vergessen hat, uns Bescheid zu sagen.«
»Verdammt. Dieser Kindskopf!«
Bay schwieg, schaukelte in Seans Schreibtischsessel hin und her.
»Entschuldige, Bay. Du weißt, ich habe das ganze letzte Jahr versucht, meine Zunge im Zaum zu halten. Aber ich habe gesehen, was du durchmachen musstest! Er ist ein Riesenarschloch, einfach unglaublich, wie er sich aufführt!«
»Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich ihn HASSE ! Pegeen nach dem Training zu versetzen! Und Annie solche Angst einzujagen.«
»Ich bin schon unterwegs … ich hole dich ab, und dann fahren wir zum Boot und fangen Annie ab.«
Tara legte auf, aber Bay saß regungslos da, umklammerte das Telefon. Die »Irischen Schwestern«; Tara hatte den Begriff vor Jahren geprägt, um ihre Freundschaft zu feiern – sie waren mehr als beste Freundinnen, beinahe wie Schwestern, die keine von beiden je hatte. Viele Leute in Hubbard’s Point hielten Bay und Tara
tatsächlich
für Schwestern, und die zwei machten sich nicht die Mühe, den Irrtum aufzuklären. Sie waren Seelengefährtinnen, verbunden durch ihre Herzen, ihren Humor und ihre irischen Wurzeln; sie liebten beide Yeats und U2 und hatten gelobt, das Leben stets voll auszukosten, ungeachtet dessen, wie überkommen es für Außenstehende wirken mochte.
Taras Leben wurde in erster Linie von ihrem Status als Alleinstehende bestimmt. Sie hatte sich nur zwei Mal richtig verliebt – in einen Künstler und in einen Künstlertypen; beide wurden ihren Erwartungen nicht gerecht. Beide Männer hatten ihr einen Heiratsantrag gemacht, doch im letzten Moment hatte sie gekniffen.
Bay wusste, dass diese Flucht etwas mit Taras Vater zu tun hatte – der unfähig gewesen war, sich gegen die starken Frauen in seiner Familie zu behaupten, und Trost im Alkohol gesucht hatte. Tara hatte gelernt, dass es besser war, sich auf die eigenen Fähigkeiten statt auf die Beziehung zu einem Mann zu verlassen. Bay liebte ihre beste Freundin und hatte das Bedürfnis, sie zu beschützen, da ihr bewusst war, dass sich hinter der harten Schale ein weicher Kern verbarg.
Tara hatte das Studium an der UC onn nach zwei Jahren abgebrochen, trotz ihrer herausragenden Intelligenz und ihrer brillanten Noten.
»Ich bin
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