Sommerhaus mit Swimmingpool
einem ansonsten gesunden Körper. Oder vielleicht eher noch wie eine terroristische Zelle. Eine kleine Gruppe bewaffneter Kämpfer hat eine große Gruppe von Leuten als Geisel genommen. Frauen und Kinder. Die Terroristen haben sich Handgranaten und Dynamitstangen umgehängt, die sie im Fall einer Stürmung zünden werden. Mit dem Mittelfinger meiner linken Hand hob ich das Augenlid etwas hoch und stocherte vorsichtig mit der Nadel. Einen Moment nicht aufgepasst und mein Auge wäre futsch, nicht nur das Geschwür. Eine Befreiungsaktion, bei der Dutzende Geiseln umkommen, kann als misslungen betrachtet werden. Die Nadel stieß kaum auf Widerstand. Von Schmerz keine Rede. Mit dem gesunden Auge versuchte ich im Spiegel zu schätzen, wie weit die Nadel drinsteckte, als ich auf einmal Stimmen hörte. Sie kamen durch ein offen stehendes Kippfenster. Ich erkannte Lisas Stimme, konnte aber nicht verstehen, was sie sagte. Wahrscheinlich saßen sie auf der Terrasse, die sich direkt unter unserem Zimmer befand. Ohne die Nadel zurückzuziehen, machte ich zwei Schritte zur Seite und schloss leise das Fenster. In dem Moment spürte ich etwas Klebriges auf den Fingern. Im Spiegel sah ich Blut über mein Gesicht laufen und in dicken Tropfen in das Waschbecken fallen. Ich zog die Nadel heraus und drückte auf das Augenlid. Mehr Blut. Es spritzte auf mein T-Shirt und auf den Fliesenboden. Aber es war nicht nur Blut, sondern noch etwas anderes, ein Substanz wie Senf. Senf, dessen Mindesthaltbarkeitsdatum weit überschritten war. Es stank bestialisch. Nach vergorenem Brackwasser, nach verdorbenem Fleisch. Mein Magen krampfte sich zusammen, und ein Schwall Galle ergoss sich zwischen dem Blut und dem Eiter ins Waschbecken. Doch innerlich jubelte ich. Ich drückte noch etwas fester, und endlich war da auch der Schmerz. Es gibt zwei Arten von Schmerz. Schmerz, der vor Gefahr warnt, und erlösender Schmerz. Dieser gehörte zur zweiten Kategorie. Ich drehte den Wasserhahn auf und drückte den letzten Eiterrest aus dem Geschwür. Erst nachdem ich das Auge mit einem Meter Klopapier gereinigt hatte, wagte ich, einen Blick in den Spiegel zu werfen. Es war nicht weniger als ein Wunder. Da war es wieder: mein Auge. Unversehrt und klar, strahlend wie die Perle in einer Muschel. Es schaute dankbar, sichtlich froh, mich wiederzusehen.
Zehn Minuten später gesellte ich mich zu meiner Familie. Auf dem gedeckten Tisch standen eine Kaffeekanne und Milch, ein Korb mit Croissants und Baguette, Butterwürfel und Marmelade. Die Kuhglocken bimmelten. Eine Hummel verschwand in einer Blüte, die sich unter ihrem Gewicht senkte. Die Sonne wärmte mein Gesicht. Ich lächelte. Ich lächelte den Bergen in der Ferne zu.
»Sollen wir den heutigen Tag mit einer kleinen Wanderung beginnen?«, fragte ich. »Mal gucken, wohin der Bach fließt?«
Die Wanderung haben wir noch gemacht. Am Berghang verschwand der Bach in einem Kiefernwald. An einer seichten Stelle sprangen wir von Stein zu Stein zum anderen Ufer. Als wir zu einem Wasserfall kamen, wollte Lisa unbedingt schwimmen. Caroline und ich sahen Julia an.
»Ist gut«, sagte sie lächelnd. »Ich hab’s hier ganz bequem.«
Sie saß mit hochgezogenen Beinen, die Arme um die Knie geschlungen, auf einer großen Felsplatte. Etwas an ihrem Lächeln stimmte nicht. Sie gab sich redlich Mühe, aber nur unseretwegen, um uns die Ferien nicht noch mehr zu vermiesen.
»Möchtest du lieber zurück ins Hotel?«, kam Caroline mir zuvor. Das heißt, ich hatte Julia fragen wollen, ob sie vielleicht doch nicht lieber gleich nach Hause wollte.
»Nein, nicht nötig«, antwortete sie.
Caroline seufzte und sah mich an. »Vielleicht bist du müde. Vielleicht willst du dich hinlegen.«
»Ich sitze hier ganz gemütlich. Schaut, wie schön das Licht ist zwischen den Bäumen.«
Sie zeigte mit zusammengekniffenen Augen nach oben, wo das Sonnenlicht in breiten Streifen durch die Baumkronen fiel. Lisa hatte sich inzwischen ausgezogen und stürzte sich ins Wasser. »Oh, wie kalt!«, schrie sie. »Kommst du auch, Papa? Ja?«
»Julia?« Ich sah sie fragend an.
Sie lächelte wieder. Es war wie ein plötzlicher Schwächeanfall, es fing bei den Knien an und pflanzte sich nach oben fort, in den Brustkorb und in den Kopf. Ich ließ mich auf einen Stein sinken.
»Willst du nach Hause, Liebes? Sag ruhig. Dann fahren wir gleich morgen los.«
Ich dachte, meine Stimme hätte normal geklungen, höchstens etwas zu leise, sie hätte jedenfalls nichts
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