Sommerhaus mit Swimmingpool
kalte Schulter. Und dann läuft sie zu Papa und jammert ihm etwas über ein harmloses Spielchen vor. Du bist doch ihr Vater, du hast doch Augen im Kopf!«
Ich nahm diese Information zur Kenntnis: Julia hatte Alex einen Korb gegeben? Wann? Gestern waren sie noch verliebt gewesen. Es war anscheinend bei der anderen Strandbar etwas vorgefallen, wovon ich nichts wusste. Aber darum würde ich mich später kümmern, jetzt musste ich mich auf Ralph konzentrieren.
»Du redest die ganze Zeit von unschuldigen Spielchen«, sagte ich. »Aber wie unschuldig sind die, wenn Julia eigentlich schon eine Frau ist oder jedenfalls ein Mädchen, bei dem die Hormone anfangen verrücktzuspielen, wie du dich ausdrückst? Ich kann’s auch anders sagen: Emmanuelle. Hat Emmanuelle auch bei euren Spielchen mitgemacht? Hast du ihr auch die Hose ausgezogen? Musste sie auch nach einem Geldstück tauchen, nachdem du ihr Höschen erwischt hattest?«
Ralph stand mit einem Ruck auf, der Stuhl fiel mit lautem Krachen um. Er drehte sich schwankend zu mir um und zeigte mit seinem dicken Zeigefinger auf mich, so nah, dass er fast meine Nase berührte.
Einerseits war mir etwas mulmig zumute. Ich hatte Angst, er könnte handgreiflich werden. Andererseits war mir das egal. Es war mir alles egal. Ralph war betrunken, ein Schlag von ihm, und ich lag auf der Matte. Von dem Rest würde ich nichts mehr mitkriegen.
»Weißt du was?«, sagte er. Ein paar Tropfen Speichel landeten auf meinem Gesicht. » Du solltest dir mal die Frage stellen, wer hier eigentlich kranke Fantasien hat. Du denkst bei solchen harmlosen Spielchen sofort an etwas Schmutziges, nicht ich. Deine Tochter spielt das unschuldige Mädchen, wenn es ihr in den Kram passt, wenn sie sich beim Papa ausheult. Aber sie weiß genau, wie sie die Männer um die Finger wickeln kann. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Wie sie kokettiert und alle aufgeilt mit ihrem Getrippel auf dem Sprungbrett. Mit ihrem Gequietsche. Wie sie herumläuft. Ich meine, wer weiß denn, was genau bei der Strandbar passiert ist? Wer weiß, wen sie da mit ihren Fotomodelltricks angemacht hat? Vielleicht ist der Papa ja blind, was seine eigene Tochter angeht, aber jeder Mann dreht sich nach ihr um. Vielleicht willer das nicht sehen. Vielleicht will er, dass sie für immer sein kleines Mädchen bleibt. Aber das kleine Mädchen ist schon groß, Marc. Sie ist genauso durchtrieben wie der Rest.«
Jetzt war ich es, der aufstand. Äußerlich ruhig. Mein Stuhl fiel nicht um. Doch innerlich war ich zu allem bereit. Ralph war größer und stärker als ich. Ich würde den Kürzeren ziehen. Aber ich konnte ihm vorher noch ordentlich wehtun. An den Folgen würde er sein Leben lang laborieren. Ich war kein Held, aber ich kannte die schwachen Stellen des menschlichen Körpers nur zu gut. Ich wusste, wie man ihn mit ein paar wohlgezielten Hieben und Tritten demolieren konnte.
»Sag das noch mal!« Ich versuchte, meine Stimme unter Kontrolle zu halten, aber es gelang mir nicht ganz. »Was meinst du damit, wie Julia herumläuft? Willst du etwa damit sagen, dass es ihre eigene Schuld ist? Wie es bei allen Frauen letzten Endes ihre eigene Schuld ist? Weil sie ja so herumlaufen ?«
Über uns öffnete sich ein Fenster. Das Küchenfenster.
»Könnt ihr vielleicht etwas leiser sein?«, sagte Judith. »Ihr schreit so laut, dass es die ganze Nachbarschaft hört.«
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36
Wir fuhren in nördlicher Richtung über kleine Küstenstraßen Richtung Autobahn. Neben mir war Lisa eingenickt, sie hing schlaff im Sicherheitsgurt, ihr Kopf lehnte in unbequemer Haltung an der Fensterscheibe. Auch Caroline und Julia schliefen, wie ich im Rückspiegel sah. Wir hatten Julia unter einem Schlafsack auf den Rücksitz gelegt, ihr Kopf ruhte in Carolines Schoß. Sie war kurz aufgewacht, als ich sie aus dem Sommerhaus getragen hatte, aber in den letzten zwei Stunden hatte sie sich nicht mehr gerührt.
Auf den Straßen war an diesem Sonntagmorgen zwar wenig Verkehr, doch das Fahren mit nur einem gesunden Auge war anstrengend. Es fiel mir schwer, die Entfernungen richtig einzuschätzen. Das perspektivische Sehen war, wie ich an der Uni gelernt hatte, eingeschränkt. Ich hatte nie genau verstanden, was damit gemeint war, doch jetzt wusste ich es. Es ist nicht das Gleiche, als wenn man nur eine Zeit lang ein Auge zumacht, denn das Auge erinnert sich noch eine Weile an die räumliche Tiefe, erst nach einem halben Tag wird die Welt flach. So flach wie ein Foto.
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