Sommerhaus mit Swimmingpool
Sie hatte Lisa oben aus dem Bett geholt. Wir hatten uns nicht von Stanley und Emmanuelle verabschiedet. »Das Zelt lassen wir hier. Das brauchen wir jetzt wirklich nicht.« Wir hatten niemanden mehr gesehen. Alle schliefen. Vielleicht war Ralph noch auf gewesen, aber auch er war nicht aus dem Haus gekommen, als ich den Motor startete und wir den Weg hinunterfuhren.
Ich wollte gerade auf die Straße biegen, als ich im Rückspiegel eine Bewegung sah. Ich bremste und schaute noch einmal hin. Judiths Mutter stand oben auf der Außentreppe. Sie winkte, das heißt, sie gestikulierte, wir sollten warten. Dann kam sie die Treppe herunter. Ich meinte, sie etwas rufen zu hören. Ich gab Gas und fuhr los.
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37
Das kleine Hotel lag an einem Bergbach mit einem Wasserrad. Zum Tal hin grasten zwischen Bäumen braune Kühe. Man hörte ihre Glocken läuten. Hummeln flogen brummend von Blume zu Blume, das Wasser des Bachs plätscherte über die Steine. Auf den Berggipfeln am Horizont lag noch Schnee.
Am ersten Tag blieb Julia im Zimmer. Wenn sie aufwachte, wollte sie nur etwas trinken, Hunger hatte sie nicht. Caroline und ich blieben abwechselnd bei ihr. Am ersten Abend ging ich mit Lisa in den Speisesaal. Sie fragte, was mit ihrer Schwester eigentlich los sei, und ich antwortete, ich würde ihr das später einmal erklären. Mädchen hätten manchmal solche Sachen, wenn sie größer würden.
»Kriegt sie ihre Tage?«, fragte sie.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, spürte ich einen pochenden Schmerz im Auge. Ich ging ins Bad und schaute in den Spiegel. Die Beule war so groß wie ein Ei, hell-dunkel gefleckt. Gelber, krustiger Eiter klebte zwischen den Wimpern. Es hämmerte und pochte wie ein entzündliches Geschwür. Und das war es auch: ein Geschwür. Wenn man ein Geschwür am Finger nicht schnell behandelte, konnte das zu einer Blutvergiftung und sogar zur Amputation führen. Wenn der Druck auf die Hornhaut zu groß wurde, konnte sie reißen. Blutiger Eiter sucht sich einen Ausgang. Für das Auge kommt dann jede Hilfe zu spät.
»Du musst Julia nachher mit runternehmen«, sagte ich flüsternd zu Caroline. »Ich möchte nicht, dass sie hier ist.«
Ich hielt mir einen Waschlappen vors Auge.
»Kann ich dir helfen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Du hilfst mir mehr, wenn du bei Julia bleibst.«
Erst im Nachhinein – viele Tage später – wurde mir klar, wie beunruhigend ich es fand, dass Julia überhaupt nicht protestiert hatte, als Caroline sie freundlich, aber bestimmt aus dem Bett scheuchte. »Kommt, wir frühstücken gemütlich«, hatte sie in munterem Ton zu ihren beiden Töchtern gesagt und die Vorhänge aufgezogen. »Heute ist ein wunderschöner Tag.«
Ich lag auf dem Bett, den Waschlappen noch immer am Auge. Caroline drückte Julia ihre Kleider in die Hand und schob sie ins Bad. Kurz darauf hörte ich das Rauschen der Dusche. Nach einer Viertelstunde rauschte sie immer noch.
»Julia?« Caroline klopfte an die Tür. »Ist alles in Ordnung? Brauchst du irgendwie Hilfe?«
Wir sahen einander an. Die Panik in ihren Augen war zweifellos eine exakte Kopie der Panik, die sie in meinem gesunden Auge sah. Lisa war von ihrem Bett in meins gekrochen. Ich drückte sie fest an mich und legte ihr sanft die Hand aufs Ohr, während ich zu Caroline gewandt die Lippen zu den Worten formte »die Tür … probier mal die Tür«.
»Julia?« Caroline klopfte noch einmal und drückte die Klinke hinunter. Sie sah mich an und schüttelte den Kopf. Ihre Unterlippe begann zu zittern, ihre Augen füllten sich urplötzlich mit Tränen. »Nicht! Nicht!«, sagten meine Lippen.
»Papa?«, fragte Lisa.
»Ja?«
»Papa, darf ich nachher Thomas anrufen?«
In dem Moment wurde es im Bad still.
»Julia?« Caroline wischte sich rasch die Tränen weg und klopfte wieder.
»Mama?« Die Tür öffnete sich einen Spalt. Ich konnte vom Bett aus das Gesicht meiner älteren Tochter nicht sehen. »Ich bin gleich fertig, Mama.«
In Carolines Schminkköfferchen fand ich eine Nadel, die ich über der Flamme meines Feuerzeugs erhitzte. Auf dem Rand des Waschbeckens hatte ich schon alles zurechtgelegt: Watte, Gaze, Jod und auch eine Spritze mit einem Schmerzmittel für den Notfall. Ich wollte das Auge nicht betäuben, sofern ich das überhaupt gekonnt hätte. Schmerz war in diesem Fall der einzige und beste Ratgeber. Er würde mir anzeigen, wie weit ich gehen konnte. Ein Geschwür ist wie ein schwer bewaffnetes Fort, ein feindlicher Brückenkopf in
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