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Sommerhit: Roman (German Edition)

Sommerhit: Roman (German Edition)

Titel: Sommerhit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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nicht alles aus der Konserve kam. Was war das Gegenteil von »live gesungen«?
Dead
gesungen? Zugegeben, es gab kein brauchbares deutsches Synonym für »live«. Und auch keines für »Playback«.
    Sie strahlte jene überraschte, weltgierige Unschuld aus, die ich selbst schon bei vielen Künstlern miterlebt hatte, die sich nach Jahren der Herumkrebserei am Anfang einer auch als solche zu bezeichnenden Karriere befanden – nicht zuletzt an mir selbst. Sie war immer noch aktiv, wie ich wusste, sang allerdings inzwischen auf Mittelmeerkreuzfahrten vor saufenden Geronten oder sogar in Erlebnisgastronomieeinrichtungen wie dem wunderbaren »Oberbayern« auf Mallorca, nachts um drei, vor lallenden Sandalentouristen, die unterm Strich nicht sehr viel intelligenter waren als die Sangríaeimer, aus denen sie tagsüber soffen. Ich weiß, wovon ich rede. Ich bin vor diesen Leuten auch schon aufgetreten.
    Ich sah abwechselnd zu Nicole und zum Telefon, das immerhin mit Kurzwahlspeicher, Wahlwiederholung und Rufnummernanzeige ausgestattet war. Mein Weinglas war sowieso leer. Ich stand auf, nahm das Glas, kurz danach den Hörer.
    »Ja?«, sagte und fragte ich.
    »Falk?«, fragte eine Frauenstimme zurück, die ich nicht kannte.
    Falk. So hatte mich schon lange niemand mehr genannt, von meinen wenigen Verwandten abgesehen.
    »Ja?«, wiederholte ich.
    »Oh. Mensch. Toll. Wahnsinn, dass ich dich erreiche.«
    »Wer ist da?«
    »Oh. Ja. Äh. Hier ist Sabine.«
    »Sabine?«
    »Ja. Sabine.
Die Sabines drei
. Erinnerst du dich? Ich war die mit den roten Haaren.«
    Ich erinnerte mich sofort und bekam eine fantastische Gänsehaut dabei. Ich sah sie vor meinem geistigen Auge, die rothaarige Sabine aus der Clique
die Sabines drei
, jene mit den X-Beinen, dem deshalb etwas schlurfigen Gang, die Sabine, die nicht dazu in der Lage gewesen war, das Tie-Äjtsch richtig auszusprechen, bis zum Abitur. Seit jener Zeit hatte ich nichts mehr von ihr oder den anderen gehört, was alles andere als einen Missstand darstellte, und nun hing sie, siebenundzwanzig Jahre später, plötzlich an meinem Telefon.
    »Woher hast du diese Nummer?«, fragte ich und gab mir nicht die geringste Mühe, es freundlich klingen zu lassen. Währenddessen prasselten Erinnerungen auf mich ein, und die meisten davon waren unschön.
    »Von deiner Mama. Das war nicht leicht.«
    Das klang nicht danach, als hätte sie mitbekommen, was ich in meine Antwort zu legen versucht hatte. Widerwillig nahmich zur Kenntnis, dass sie meine Mutter »Mama« nannte. Das stand ihr nicht zu.
    »Das hat seine Gründe«, sagte ich leise, fast zornig.
    »Du, wir machen ein Klassentreffen. Endlich. Und alle kommen. Nur du fehlst noch.« Etwas leiser ergänzte sie: »Und Arndt, natürlich.« Dann fragte sie, wieder lauter: »Ist das nicht irre?«
    Ich starrte auf das Telefon, den schwarzglänzenden Apparat, und fand es tatsächlich im ersten Augenblick irre. Was für eine Chuzpe, nach all dem, was damals geschehen war, auf die Idee zu kommen, ein Treffen zu veranstalten. Meine Gänsehaut blieb, nahm weitere Körperoberfläche ein. Gleichzeitig spürte ich, dass ein Teil von mir diese Idee irgendwie für reizvoll hielt. So, wie man Fallschirmsprünge reizvoll findet, bis man im Flugzeug sitzt und der Welt unter sich beim Kleinerwerden zuschaut.
    »Ist das dein Ernst?«
    Sie schwieg, vielleicht nickte sie; sie gehörte sicher zu den Frauen, die am Telefon nicken. »Ja, total«, sagte sie dann. »Wir machen ein richtig großes Event. Das wird sicher total lustig.«
    Total, dachte ich. So, wie damals alles total lustig gewesen war. Und, vor allem,
cool
. Ich sah zum Fernseher, wo Dieter Thomas Heck jemanden anmoderierte, während Nicole im Hintergrund, mit Blumen beladen, die ihr Zuschauer überreicht hatten, winkend im Gang verschwand. Sie wusste noch nicht, dass die Zeit des großen Ruhms bald wieder vorbei sein, dass man sie jahrzehntelang auf diesen einen Song reduzieren würde, den sie bis heute vermutlich mehrere tausend Male gesungen hatte.
    »Ich bin ein bisschen in Eile«, log ich, weil ich es einfach gruselig fand, mit dieser Frau, diesem Monster aus einem abgeschlossenen Leben, darüber zu sprechen, all diese Leutewiederzusehen. »Schick mir eine Mail.« Elektropost mochte ich, und natürlich hatte ich einen Computer, sogar mehrere, denn immerhin machte ich Musik, und das ging schon seit Jahren nicht mehr ohne. Dann diktierte ich ihr eine Adresse – keine offizielle – und legte auf. Mit einem

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