Sommerhit: Roman (German Edition)
zwar einzeln viel leiser waren als »unsere«, aber in der Summe lauter, und außerdem war die Art der Geräusche fremd für mich. Ich fand es erstaunlich, mich jetzt in einer Welt zu befinden, die in wenigen Kilometern Entfernung an diejenige grenzte, in der ich zuvor gelebt hatte (allerdings hatte ich erst über tausend Kilometer hinter mich bringen müssen auf dem Weg von dort nach hier), sich aber auf unglaubliche Weise von ihr unterschied. Ich hatte das Gefühl, dass imPrinzip
alles
anders war. Vor allem aber die Gerüche unterschieden sich. Schon beim Aufwachen erinnerte mich dieser Umstand immer wieder sofort daran, dass ich mich in einer unbekannten Welt befand, von der ich nicht ahnte oder gar wusste, was sie für mich bereithielt oder wenigstens bedeutete.
Meine sehr feine Nase war mir zunächst selbst nicht bewusst gewesen, weil man einen Unterschied nicht feststellen kann, wenn der Vergleich fehlt. Erst als ich in die Schule gekommen war und auf dem Heimweg manchmal meine Schwester Sonja begleitete, die zwei Jahre älter war als ich und bald auf die Erweiterte Oberschule gehen würde, stutzte sie irgendwann, weil ich schon lange vor dem Betreten unseres Hauses in der Lage war, punktgenau vorherzusagen, was es zum Essen geben würde. Eigentlich, aber das verriet ich ihr erst später, roch ich es schon am Gartentor, manchmal sogar bereits, obwohl das geduckte, graue Einfamilienhaus mit dem fleckigen Ziegeldach, in dem wir wohnten, noch nicht einmal in Sichtweite war. Ich konnte den säuerlich-senfigen Geruch von Königsberger Klopsen vom säuerlich-muffigen Geruch gebratener Nierchen schon von weitem unterscheiden und ihn aus dem olfaktorischen Angebot herausfiltern, das sich in unserer Straße darbot. Dazu gehörten die omnipräsenten, leicht asbestigen Ausdünstungen der Dachpappe, mit der alle Häuser gepflastert waren, das Aroma des Zements, der im Sommer etwas ausamtete, das mich an Plaste erinnerte, die Deodorants und vor allem Seifen von »nautik« über »Karibik« bis »riwal« und natürlich die ölig-petrochemischen Abgase der vielen Zweitakter. Von den Gerüchen, die Flieder, Forsythien, Narzissen, Glockenblumen, Obstbäume, Gemüsebeete, die Komposthaufen neben den Häusern und die Sickergruben hinter ihnen ausströmten, ganz zu schweigen.
Ich roch aber noch weit mehr als das. Ich konnte ausmachen, wer zu Hause war, nachdem ich die Tür hinter mir abgeschlossenhatte, und sogar, wer als Letzter am Morgen gegangen war. Im Flur schnuppernd fiel es mir leicht, Sonjas momentanen Aufenthaltsort im Haus zu bestimmen, wenn sie vor mir aus der Schule gekommen war. Sie benutzte ausschließlich das Schauma-Apfelshampoo, das sie für viel zu viel Geld von einer Klassenkameradin kaufte, die, im Gegensatz zu uns, gute Westkontakte hatte. Dieser Duft war nicht nur von anderer Intensität als diejenigen der DDR-Kosmetikprodukte, sondern auch in jeder anderen Hinsicht komplett unterschiedlich. Das BRD-Haarwaschmittel, das Sonja so vorsichtig dosierte, dass eine Flasche davon trotz täglicher Wäsche fast drei Monate lang ausreichte, stellte für mich eine echte Herausforderung dar. Ich rätselte lange daran herum, die Inhaltsstoffe auszumachen, was mir bei den heimischen Pendants meist sehr schnell gelang, fand die Lösung aber nie. Ganz sicher allerdings enthielt es keine Äpfel, denn es roch nicht einmal entfernt wie die grünbraunen Boskops, die am weit ausladenden und den gesamten hinteren Garten beherrschenden Baum wuchsen, der auf dem Grundstück unseres Nachbarn, Herrn Leder, stand. Herr Leder war weit über siebzig, ein glatzköpfiger, sehr kleiner Mann, der eine ganze Palette von Aromen verströmte, aber das intensivste war eines, das demjenigen einer langsam verschorfenden Wunde ähnelte, von denen ich mir im Sommer regelmäßig Dutzende zuzog, vor allem an den Knien. Herr Leder war wortkarg, und ich erfuhr nie, was er vor seinem Ruhestand getan hatte, aber manchmal ging Mama zum Wohnzimmerfenster, schob die Nase durch die Gardinen und flüsterte dann: »Der alte Leder beobachtet uns schon wieder.« Immerhin durften wir die Äpfel behalten, die von seinem breitkronigen Boskop-Baum auf unser Grundstück fielen, und dafür mochte ich den kleinen alten Mann, der nach Schorf, Nordhäuser Doppelkorn und kaltem Achselschweiß duftete.
Das Apfelshampoo war auch das Erste, was ich an Karen bemerkte, als ich sie traf. Karen war das Mädchen, mit dem ich meine Unschuld verlor. Karen kam aus dem Westen. Sie
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