Sommerhit: Roman (German Edition)
sein geliebtes Tonbandgerät und eine Kiste Boskops aus dem vergangenen Herbst eintauschte.
Obwohl ich seit dem vergangenen Oktober das dafür nötige Alter erreicht hatte, war ich noch kein Mitglied der FDJ. Meine Eltern hatten auf meine Fragen in dieser Richtung stets zurückhaltend reagiert, und inzwischen hatte ich mir begeisterte Schilderungen meiner Mitschüler vom »Treffen der Freundschaft« in Karl-Marx-Stadt anhören müssen. Herr Kosczyk fragte mich regelmäßig, wann mit mir zu rechnen sei, und nun, Ende Mai, überschlugen sich Mama und Papa plötzlich damit, alles Nötige zu organisieren. Aber ich hatte kaum noch Zeit, die neue Kleidung – eigentlich behagte es mir nicht, mich uniformieren zu müssen, auch wenn es nur um ein Hemd ging – und das Angebot der FDJ auszukosten. Meine Erfahrungen bis zum Urlaubsantritt beschränkten sich auf zwei äußerst langweilige und politikschwangere Abende im Klubhaus und ein Wochenende, an dem wir in einer großen Gruppe aufs Land fuhren, in stinkenden, mausgrauen Zelten wohnten, grausigen Kartoffelbrei aßen und auf amüsantabsurde Weise mit Handgranatenattrappen Weitwurf übten.
Im Juni wurde es dann immer hektischer. Mama schien bereits dabei zu sein, die Koffer für den Urlaub, der noch Wochen entfernt war, vorzubereiten. Bei unseren bisherigen Reisen – in den Spreewald, zwei Mal an die Ostsee und ein Mal nach Berlin, wo wir fünf Stunden angestanden hatten, um vom Fernsehturm aus einen Blick auf die gewaltige Stadt werfen zu dürfen – hatte sie am Vorabend der Abreise ein paar Kleidungsstücke ausgewählt und unsere Kosmetikbeutel bestückt, aber in diesem Sommer sortierte sie unermüdlich Stapel mit Textilien, warf sie um und sortierte sie wieder neu. Außerdem lagdie kleine Schatulle mit Schmuck, den sie von Oma geschenkt bekommen hatte, wiederholt neben den Stapeln auf der Bettwäsche und verschwand dann wieder, dabei trug Mama niemals Schmuck, nur ihren blassgoldenen, schmalen Ehering.
Gegen Ende Juni bekamen wir seltsamen Besuch. Ich saß im Vorgarten auf einer zerschlissenen Decke, die nach Gras und Tieren roch, und las in einem
Atze
-Comic, als zwei Männer in beigefarbenen Anzügen vor dem Tor stehen blieben und mit »Junge!« nach mir riefen. Ich legte das Heft vorsichtig auf den Rücken, erhob mich und ging zum Zaun. Die Herren waren trotz der Hitze akkurat gekleidet, aber ihre merkwürdig glänzenden Anzüge und die dunkelrosafarbenen Hemden darunter sahen in meinen Augen unpassend aus. Die beiden ähnelten einander, trugen ihre braunen Haare kurz geschoren und musterten mich genauso aufmerksam, wie ich in die Luft schnupperte, um ihre Düfte wahrzunehmen. Sie schwitzten sehr, wie ich sofort feststellte, und benutzten zwei Sorten Rasierwasser, die ich noch nicht kannte, aber außerdem rochen sie nach etwas, das mich an das gerade beiseitegelegte
Atze - Heft
erinnerte: Es war der Geruch von Papier, allerdings sehr viel intensiver als sogar in der Schulbücherei.
Einer von beiden legte die Handkante an die Stirn und sagte »Freundschaft«, wobei er grinste, ohne gleichzeitig ein fröhliches Gesicht zu machen – die Augen blieben seltsam starr. Ich entgegnete den FDJ-Gruß hastig.
»Sind deine Eltern zu Hause?«, fragte der andere, und wie alle Kinder beantwortete ich die Frage nicht, sondern drehte mich um und schrie: »Mama, Papa, hier sind Männer!«
Mein Vater kam aus der Garage, in den Händen ein weißrotes Handtuch, das mit Ölflecken übersät war. Als er die beiden sah, verlangsamte er sich und nahm einen ernsten Gesichtsausdruck an. Dann nickte er bedächtig, lächelte schmal und öffnete das Tor, mit einer Körperhaltung, die mich an ihmüberraschte und ihn zu verkleinern schien. Ohne eine Begrüßung gingen die beiden an ihm vorbei zum Haus, in dessen Tür Mama soeben erschien und ihrerseits besorgt dreinschaute. Sie machte einen Schritt beiseite, um die Besucher einzulassen, und auch sie fragte nicht einmal nach ihren Namen. Es dauerte fast drei Stunden, bis der Besuch endete, und sie kamen noch zwei weitere Male, immer wieder ohne Ankündigung.
Am späten Nachmittag jenes dritten Juli, an dem wir in der Nacht zum vierten losfahren wollten, kam Papas Freund Jürgen mit seiner Frau vorbei. Sie brachten Reiseproviant in Form von Gurken, Kartoffeln, geräuchertem Fisch und viel Obst, außerdem verkratztes Plastegeschirr, einen sehr wackeligen Grill, zwei Säcke Holzkohle, einige Aluminiumtöpfe und, was mein Herz einen Hüpfer
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