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Sommerkind

Sommerkind

Titel: Sommerkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diane Chamberlain
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wahres Wunder. Und was mich betrifft, hat Shelly weder andere Eltern noch eine andere Familie.”
    “In Ordnung.” Rory nickte kurz mit dem Kopf. “Vielen Dank, dass Sie mir Ihre Zeit geopfert haben.”
    Er öffnete die Tür und verließ das Büro. Shelly saugte gerade den Hausflur, doch als sie ihn sah, schaltete sie das Gerät aus und kam zu ihm herüber.
    “Ist er nicht nett?”, fragte sie.
    “Ja”, log er. “Sehr.” Er warf einen Blick auf den Staubsauger. “Soll ich dich nachher nach Hause bringen?”
    “Nein, danke. Ich gehe zu Fuß. Ich gehe gern zu Fuß.”
    “Dann sehen wir uns später in der Sackgasse.” Er ging den Flur entlang und durch die Tür hinaus ins Freie und ließ Shelly mit einem ihrer zahlreichen Aufpasser zurück.
    Durch das Fenster von Sean Macys Büro hatte man einen herrlichen Blick über die Salzmarsch und auf die Bucht, und noch lange, nachdem Rory gegangen war, saß der Priester einfach auf seinem Stuhl und beobachtete einen Reiher, der im Wasser inmitten von Seegras stand. Die kurze Begegnung mit Rory hatte ihn ermüdet, doch ihm war bewusst, dass dies nur
ein
Aspekt seiner Misere war. Noch nie zuvor hatte er sich so schlecht gefühlt, und auch das Gebet brachte ihm nicht mehr den ersehnten Trost oder Antworten.
    “Pfarrer Sean?”
    Beim Klang von Shellys Stimme wandte er sich vom Fenster ab. Da stand sie in der Tür, die hübsche gute Seele von St. Esther's, und er konnte nicht anders, als sie anlächeln.
    “Kann ich jetzt bei Ihnen staubsaugen?”, fragte sie. “Oder störe ich Sie?”
    “Nein, komm nur herein.” Er sah ihr aufmerksam zu, wie sie den Staubsauger in sein Büro rollte, ihn einschaltete und in einer Zimmerecke mit der Arbeit begann. Das blonde Haar hatte sie zum Pferdeschwanz zusammengebunden, was sie jünger wirken ließ als zweiundzwanzig.
    Shelly.
    Er wusste so viel von ihr. Vielleicht mehr als jeder andere. Dann drehte er sich wieder zum Fenster. Draußen in der Bucht, weit hinter der Marsch, war ein Segelboot zu erkennen, dessen Mast sich fast parallel zur Wasseroberfläche neigte.
    Auf einmal erstarb das Geräusch des Staubsaugers, und als der Priester sich wieder umdrehte, starrte Shelly ihn an. Sie sah besorgt aus.
    “Sie sehen schon wieder so unglücklich aus”, sagte sie.
    Sean richtete den Blick auf die Papiere auf seinem Schreibtisch. Er wollte sie um keinen Preis mit seinen Problemen belasten; das hatte er noch nie getan. Doch in diesem Moment verspürte er das dringende Bedürfnis, mit ihr, der Hüterin seiner Geheimnisse, seine Sorgen zu teilen.

28. KAPITEL
    D as Treffen mit dem Pfarrer ist ja nicht gerade nach Plan verlaufen, dachte Rory auf dem Heimweg. Pfarrer Macy würde ihm keine Informationen zu Shellys Adoption geben, so viel war sicher. Natürlich könnte er die Fakten anhand der öffentlichen Personenregister herausfinden, doch hatte er gehofft, von dem Priester etwas über die Gefühle zu erfahren, die bei der Sache mitgespielt hatten. Da die Cato-Eltern nicht mehr lebten, war es ohne seine Hilfe unmöglich, die Gründe dafür nachzuvollziehen, dass sie das Findelkind unbedingt adoptieren wollten.
    Er wartete an einer roten Ampel, als sein Blick zum Dach eines Hauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite wanderte. Er erkannte Bauarbeiter, die eine Dachterrasse bauten. Eine von ihnen war offensichtlich eine Frau. Sie wandte ihm den Rücken zu und hämmerte nach vorn gebeugt auf eine Holzlatte ein. Die kakifarbenen Shorts schmiegten sich dabei eng an ihre Beine. Die Kurve ihrer schmalen Taille endete in festen wohlgeformten Hüften, und Rory fühlte sich sogleich zu ihr hingezogen. War das die Art Arbeit, die auch Daria ausübte? Auf einem Dach balancierend den Hammer schwingen? Sein Blick fiel auf einen der anderen Arbeiter, einen Mann mit blondem Pferdeschwanz, in dem er Darias Kollegen Andy Kramer erkannte. Blitzschnell sah Rory wieder zu der Frau. Sie stand gerade auf, sodass er ihre schwarze Mähne erkannte.
Daria.
Über sein Gesicht legte sich ein breites Grinsen. Wie er sie dort oben sah, durchflutete ihn eine wohlige Wärme, und er war zugleich überrascht und ein wenig erschrocken über die unerwartete körperliche Anziehung, die er für sie empfand. So musste es sich anfühlen, wenn man sich zu seiner Schwester hingezogen fühlte. Nur, dass Daria nicht seine Schwester war.
    Der Fahrer hinter ihm hupte, und Rory blickte hektisch zur Ampel. Grün. Er trat aufs Gaspedal. Wie lange hatte er wohl so verträumt

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