Sommerkind
mit seiner Vermutung richtig: Vermutlich hatte sie Brustkrebs, vielleicht sogar eine Brustamputation hinter sich. Sie trug stets diese hochgeschlossenen Badeanzüge. Verständlich, dass sie Nähe nur schwer ertrug, und sie, Daria, war eine miese Schlange, wenn sie daran auch nur irgendetwas Positives sah.
Sie überquerte die Oregon-Bucht und fuhr dann über die grünen, weitläufigen Ebenen des Pea-Island-Naturschutzgebiets. Kurz darauf kam sie in Rodanthe, der nördlichsten Stadt auf Hatteras Island, an. Auf diesem schmalen Landstrich gab es weniger Häuser als in Kill Devil Hills, und auch der kommerzielle Zug, den man dort wahrnahm, fehlte hier.
Rodanthe war so klein, dass sie ihr Ziel ohne Probleme erreichte. Sie bog in eine Straße ein, fuhr ein kleines Stück Richtung Pamlico-Bucht und parkte den Wagen dann vor dem gesuchten Haus. Es war alt, klein und gelb, und an seiner Stirnseite lag ein gepflegtes Gärtchen. In der Auffahrt standen keine Autos, doch vielleicht versteckte sich eines in der verschlossenen Garage. Dass niemand zu Hause sein könnte, hatte sie überhaupt nicht bedacht. Hätte sie doch vorher anrufen sollen?
Sie klopfte an die Haustür und wartete.
“Es ist niemand da.”
Daria drehte sich um und sah auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine mit Einkaufstüten bepackte Frau aus einem Wagen steigen.
“Wissen Sie, wo ich sie finde?”, fragte Daria.
“Wahrscheinlich in ihrem Laden”, gab die Frau Auskunft. “Er heißt 'Beachside Café and Sundries'. Einfach immer geradeaus.” Mit dem Kopf wies sie gen Süden. “Und an der Weggabelung links.”
Zurück im Auto folgte Daria der Wegbeschreibung zum “Beachside Café”. Dort hielt sie am Straßenrand und blieb noch einen Moment lang im Wagen sitzen. Wie ging sie am besten vor? Sie wollte die beiden mit einer so schwerwiegenden Sache nicht während der Arbeit belästigen. Vielleicht würde sie einfach nur sagen, wer sie war, und fragen, wann ein geeigneter Zeitpunkt für eine Unterhaltung wäre.
Mit diesem Plan im Kopf stieg sie aus und betrat das Café.
Der Laden war klein, brechend voll und erfüllt von starkem Kaffeegeruch. Die Tische, von denen aus man die Bucht sehen konnte, waren alle besetzt. Am Tresen standen zwei Frauen, die wohl auf ihre Bestellung warteten. Eine junge Frau – zu jung, um die Mutter der Pilotin zu sein – brachte ein Tablett mit Sandwiches an einen Tisch. Hinter dem Tresen bediente ein dunkelhaariger Mann die Espressomaschine. Als Daria näher kam, sah er auf.
“Was kann ich für Sie tun?”, fragte er sie und widmete sich bereits wieder der Maschine.
“Entschuldigen Sie bitte die Störung”, sagte sie, “ich suche Edward Fuller.”
Er trocknete sich die Hände ab. “Ich bin Eddie”, erwiderte er. Er servierte den beiden Frauen an der Theke zwei Tassen Kaffee, und die nahmen sie mit zu einem der überfüllten Tische.
“Es tut mir so leid, dass ich Sie bei der Arbeit störe, Mr. Fuller”, sagte sie noch einmal.
“Eddie”, wiederholte er.
“Eddie. Ich bin Daria Cato. Ich war unter den Sanitätern, die bei dem Flugzeugabsturz dabei waren, bei dem Ihre Tochter Pamela …” Sie sah zu den Fenstertischen hinüber und senkte die Stimme. “… bei dem Ihre Tochter ums Leben kam. Ich möchte Sie fragen, ob ich irgendwann einmal mit Ihnen und Ihrer Frau sprechen kann?”
Einen Augenblick lang starrte er sie an, dann nickte er. “Sally?”, rief er eine der Kellnerinnen.
Die junge Frau drehte sich von dem Tisch, an dem sie gerade bediente, zu ihm um.
“Kannst du hier mal kurz allein weitermachen?”, fragte er.
“Kein Problem”, antwortete sie, und Eddie Fuller führte Daria in das hinter der Theke gelegene Büro. Der Raum war winzig und wirkte durch die beiden wuchtigen Schreibtische, die übereck standen, noch kleiner.
“Bitte …”, der Mann wies auf einen Schreibtischstuhl, “… nehmen Sie Platz.”
Daria setzte sich. “Ist Ihre Frau auch da?”, fragte sie. “Ich hatte gehofft, mit Ihnen beiden sprechen zu können.”
“Nein, tut mir leid, sie ist gerade nicht hier. Aber mich würde wirklich interessieren, was Sie zu sagen haben. Sie waren also dort, am Unfallort?”
“Ja. Und obwohl es nun schon mehrere Monate zurückliegt, denke ich noch oft an sie – an Ihre Tochter. Ich musste Sie und Ihre Frau einfach aufsuchen, um mich zu vergewissern, dass Sie zurechtkommen, und um Ihnen nachträglich mein Beileid auszusprechen.”
Mit einem schweren Seufzer setzte Eddie
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