Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman
Geschichten aus unserem Ort und der umliegenden Gegend erzählen.
Wir wollen nicht vom ganzen Ort berichten, nicht Haus für Haus durchgehen, das würdest du gar nicht aushalten; aber wir berichten sicher von der Lust, die Tage und Nächte miteinander verknüpft, von einem glücklichen Fernfahrer, von Elisabets dunklem Samtkleid und von dem, der mit dem Bus kam; von der hochgewachsenen Puridur, die voll heimlicher Sehnsucht steckt, von dem Mann, der die Fische nicht zählen konnte, und der Frau mit den schüchternen Atemzügen; von einsamen Bauern und einer viertausend Jahre alten Mumie. Wir erzählen von alltäglichen Begebenheiten, aber auch von solchen, die unser Verstehen übersteigen, weil es für sie vermutlich einfach keine Erklärungen gibt; Menschen verschwinden, Träume verändern ein Leben, fast zweihundert Jahre alte Menschen scheinen auf sich aufmerksam zu machen, anstatt ruhig da zu liegen, wo sie hingehören. Und natürlich wollen wir dir von der Nacht erzählen, die über uns hängt und ihre Kraft tief aus dem Weltraum zieht, von den Tagen, die kommen und gehen, von Vogelgezwitscher und letzten Atemzügen; bestimmt werden es viele Geschichten. Hier im Ort fangen wir an und werden auf einem Hof nördlich davon enden, und jetzt fangen wir wirklich an, jetzt geht‘s los, Freude und Einsamkeit, Bescheidenheit und Unsinn, Leben und Traum – ach ja, Träume.
Das All und ein dunkles Samtkleid
Eines Nachts begann er auf Latein zu träumen. Tu igitur nihil vidis? Es blieblange unklar, um welche Sprache es sich handelte, er selbst glaubte, es sei eine ganz eigene, selbstgebastelte, in Träumen gibt es schließlich mancherlei und so weiter. Damals sah es hier im Ort noch ziemlich anders aus, wir bewegten uns langsamer, und die Genossenschaft hielt alles zusammen, er hingegen war Chef der Strickfabrik, gerade dreißig geworden. Er hatte Erfolg auf der ganzen Linie und war mit einer so gutaussehenden Frau verheiratet, dass manch einem innerlich ganz anders wurde, wenn er sie sah. Die beiden hatten zwei Kinder, und wir gehen davon aus, dass eines von ihnen, Davið, hier auf diesen Seiten noch Vorkommen wird. Der junge Chef schien ein geborener Siegertyp zu sein, er und seine Familie wohnten im größten Einfamilienhaus des Orts, er fuhr einen Range Rover und ließ sich seine Garderobe maßschneidern, wir anderen nahmen uns neben ihm alle ziemlich grau aus, doch dann begann er auf Latein zu träumen. Es war der alte Doktor, dem am Ende aufging, um welche Sprache es sich handelte, leider starb er bald darauf, als dieses Mistvieh von Guöjön ihn kläffend anfiel; das alte Herz blieb vor Schreck stehen. Wir haben den verdammten Köter gleich am nächsten Tag erschossen, hätten wir’s nur früher getan. Guöjön drohte mit einer Anzeige und schaffte sich einen neuen Hund an, der noch schlimmer ist als der vorige. Manch einer von uns hat schon versucht, ihn zu überfahren, aber das Biest ist schnell. Der alte Doktor konnte so gut wie kein Latein, nur ein paar Worte und die Bezeichnungen von Organen, aber das reichte, als sich der Fabrikleiter endlich den oben zitierten Satz merken konnte.
Wer anfängt, auf Latein zu träumen, ist wohl kaum aus alltäglichem Holz geschnitzt. Englisch, Dänisch, Deutsch, meinetwegen Französisch und sogar Spanisch, es ist gut, ein paar dieser Sprachen zu können, die Welt in einem wird größer, aber Latein, das ist ganz was anderes, das ist so viel mehr, dass wir uns kaum trauen, es uns weiter auszumalen. Der Geschäftsführer aber war ein Mann der Tat, den hielt wenig auf, er wollte alles um sich herum im Griff haben, und daher irritierte es ihn mächtig, als sich seine Träume mit einer Sprache füllten, von der er kein Sterbenswörtchen verstand. Dagegen gab es nur eins: in die Hauptstadt zu fahren und einen zweimonatigen Privatintensivkurs in Latein zu absolvieren.
In jenen Jahren trat er noch großartig, ja, fast großspurig auf. Er rauschte in seinem Range Rover nach Süden und kaufte für seine Frau einen neuen Toyota Corolla, Automatik, damit sie ihre schönen und schlanken Beine nicht überstrapazieren musste, während er sich in der Stadt aufhielt, was allerdings vollkommen überflüssig war, denn manch einer hätte sich nur zu gern freiwillig erboten, sie durch alle Straßen des Ortes und über alle Stufen des Lebens zu tragen. Er aber rauschte in seinen maßgeschneiderten Anzügen mit entschlossener und ungeduldiger Miene in die Stadt, das Gesicht wirkte
Weitere Kostenlose Bücher