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Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Titel: Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson , Karl-Ludwig Wetzig
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einem offenen Hofplatz mit reichlich Luft und Platz um sich herum.
    Ja, sagt er noch einmal, und sie kommt noch näher, ihr warmer, etwas süßer Atem könnte mit Leichtigkeit einen Grönlandgletscher zum Schmelzen bringen, dann würde der Meeresspiegel ansteigen, und viele Menschen
    würden ertrinken, zum Beispiel in Reykjavik oder Akranes und ganz sicher in isafjöröur, das auf einer Sandbank mitten in einem Fjord liegt.
    Ich werde nicht in Richtung der Grönlandgletscher atmen, verspricht sie, kommst du noch etwas näher, fragt er behutsam, ja, bist du sicher, fragt er ungläubig, und sie antwortet damit, dass sie sich noch näher an ihn drängt, so nah, dass er ihre Schenkel spürt und ihre Brüste, es ist so lange her, seit er das letzte Mal Brüste gefühlt hat, er versucht, an ägyptische Mumien zu denken, aber selbst ein viertausend Jahre alter Toter kann ihm jetzt nicht mehr helfen, sie ist so dicht bei ihm, dass sie fühlen muss, was an ihm vorgeht, und das tut sie auch, Verzeihung, möchte er sagen, aber da presst sie sich gegen ihn, und Benedikt holt Luft, der Himmel erzittert und die Zeit vergeht, wahrscheinlich so an die viertausend Jahre. Dann löst sie sich von ihm, tritt zwei Schritte zurück, und er hat das Gefühl, unangenehm viel Platz um sich zu haben.
    Ich komme morgen wieder, sagt sie, kannst du nicht jetzt kommen, fragt er, nein, gib uns eine schlaflose Nacht, nein, überspringen wir sie, ich kann nicht länger warten. Natürlich kannst du warten, und morgen komme ich mit dem Umzugswagen, sagt sie, steigt in ihr Auto, startet, dreht das Fenster herunter und sagt: Wir werden große Kinder bekommen.
    Was soll man sagen, manchmal dauert es bis zum nächsten Tag so lang, dass viertausend Jahre nichts dagegen sind, und manchmal kommt der nächste Tag nie. Þuríður fährt in den Ort zurück, Benedikt und der Hund sehen ihr nach, bis der Wagen verschwunden ist, dann hüpft Benedikt über den Hof, und der Hund springt ihm nach. Dann geht Benedikt ins Haus, sucht die Adresse des Arabers heraus und das isländisch-englische Wörterbuch und beginnt einen Brief.
    Dear friend, now I can touch the sky!
    Es macht richtig Spaß, einen Brief zu schreiben, wenn man glücklich ist, dagegen ist es gefährlich, in diesem Zustand Auto zu fahren, man ist mit den Gedanken ganz woanders, konzentriert sich nicht. Irgendwo zwischen Benedikts Hof und dem Ort passt Þuriður nicht auf und kommt an einer unübersichtlichen Stelle von der Straße ab, wo es steil abfällt, der Wagen überschlägt sich dreimal. Unten ragt ein Felsblock aus dem Geröll, Wind und Regen haben ihn über einen langen Zeitraum hinweg geformt, er war noch ein ganz gewöhnlicher Felsen, als die Mumie in Ägypten lebte und litt, doch jetzt, viertausend Jahre später, steht er da wie eine überdimensionale Pfeilspitze. Der Wagen rollte über ihn hinweg, auf der Fahrerseite drang er durch das Seitenfenster ein, und wenn ein menschlicher Schädel und ein Fels zusammenprallen, geht der Schädel kaputt. Der Fels hatte also die ganze Zeit bloß an dieser Stelle gestanden, um einmal einen Menschen umzubringen.
    Es kostete Benedikt viel Zeit, ihn auszugraben, er begann mit Brechstange, Hacke und Schaufel, das Auto oben an der Straße, doch bald holte er den Traktor mit der großen Gabel, morgens früh fing er an, und es war fast Mitternacht, als er den Stein herausbekam, der auf dem Heuwagen harmlos wirkte, als Benedikt ihn zum Hof fuhr. Der Stein reichte ihm bis an die Brust und sah dann doch wieder ziemlich imposant aus, als er ihn genau da ablud, wo er und turiöur beieinandergestanden hatten. Den ganzen Sommer über, den Herbst und auch den Winter hindurch ging Benedikt in jedem Wetter hinaus und bearbeitete den Felsen mit dem Vorschlaghammer, er besorgte sich eine Schutzbrille, um nicht das Augenlicht zu riskieren, obwohl er gar nicht viel sehen musste, nur eben den Stein, und es tat ihm gut, auf ihn einzudreschen, den Fels zu zermalmen, die Splitter in alle Richtungen spritzen zu sehen, es tat gut, blutige Schrammen im Gesicht und an den Armen zu bekommen, es war wohl so ziemlich das Einzige, was guttat, aber es tat nicht richtig gut. Dann kam das Frühjahr, am Himmel wie auf Erden, der Frost verschwand nach und nach aus dem Boden, die Vögel kehrten zurück, die Sonne wurde größer, und der Felsen stand nicht länger auf dem Hof, er war zu kleinen Steintrümmern geworden. Benedikt lehnte sich an die Hauswand, es gab nur ihn, den Hund und eine

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