Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman
Einzelnen tat es hinterher so leid, dass sie am Telefon die Beherrschung verloren hatten, dass sie ihr Dinge schickten, die man als Zeichen des Bedauerns, der Dankbarkeit oder Wiedergutmachung verstehen kann. Anton, der Taxifahrer im Ort, schickte ihr schon Blumen, Pralinen, Rotwein, einen Sechserpack Bier, eine Flasche Wodka, ein Buch, einen kleinen Welpen und einmal ein dunkles Lamm mit Augen, in denen sich der Himmel spiegelte. Aus dem Welpen wurde ein echter Vorzeigehund, aus dem Lamm ein ausgewachsenes Schaf, das seine besten Tage in Helgas Garten verbringt. Es ist schön, sie durch den Ort gehen zu sehen. Wir schließen sie in unsere Abendgebete ein und sagen: Sorge dafür, dass die üblen Beschimpfungen nicht Helgas schönen Kopf platzen lassen.
Mit den Beschimpfungen meinen wir nicht nur das, was ihr Leute, verstört und fertig von der Gegenwart, durch den Telefonhörer an den Kopf werfen, wir denken dabei vor allem auch an die fünf Frauen oder zehn Hände, die keine Arbeit mehr gefunden haben. Seit dem Tag, an dem die Maschinen aus der Strickerei auf den LKW verladen wurden, treffen sie sich zweimal die Woche, leisten einander Gesellschaft und füllen die Leere aus, die die Arbeitslosigkeit hinterlässt. Zehn Hände in einem Wohnzimmer, zehn arbeitslose Hände, die einmal Teile eines Kreislaufs waren, die zum täglichen Leben beitrugen, aber sieh sie dir jetzt an: welch eine Verschwendung von Händen, und die Zeit vergeht. Sie sprechen nicht immer gut von Helga, sie würden ihre Arbeit besser machen, den ganzen Quatsch beiseitelassen, die Psychologiebücher, das dunkle Schaf, und sie würden ein rotes T-Shirt über schwarzen Jeans anziehen, und ihre zehn Hände fuchteln herum wie ein Bienenschwarm. Mittlerweile rufen Helga nämlich auch Kerle an, um über ihre Ehe zu reden, sich über ihre Frauen zu beschweren, über nicht genügend Sex. Witwer, Geschiedene und Unverheiratete rufen an und reden von der Einsamkeit. Wir sollten uns beim Sozial- und Familienministerium beschweren, sagt eine von ihnen, oder fällt so eine Arbeit in die Zuständigkeit des Gesundheitsministers? Sie sind sich nicht sicher, und Monate gehen ins Land, die fünf Frauen verfolgen die Serie Einblick/Ausblick, Kochsendungen, Talkshows, und eigentlich ist es ein Fulltimejob, das Fernsehprogramm und das Ortsleben im Auge zu behalten, auch wenn es in den letzten Jahren immer schwieriger geworden ist, zwischen beiden noch zu unterscheiden. Aber da sind zehn arbeitslose Hände, ein Wohnzimmertisch voller Kuchen, Gebäck, Kaffeekannen, Rezepten, Ratgebern und Bestsellerromanen, es ist Sommer, es ist Winter, leuchtendes Sommerlicht und pechschwarze Nächte.
Vier
Hier am Ende der Welt ließe sich kaum leben, wenn der Winter nicht so lang und der Himmel nicht so dunkel wäre. An den Winterabenden stromert der Astronom ums Dorf und hat die Augen zum Himmel gerichtet; manchmal mit einem starken Fernglas, und wenn er nicht draußen unterwegs ist, hockt er an seinem großen Teleskop, das die Fernen auf den Ort herabsaugt, oder er sitzt über Bücher gebeugt, manche von ihnen in dieser alten Sprache, Latein, geschrieben, oder er sieht etwas im Computer nach und denkt viel. Sein Haar wird grau, er ist sehr klug, versteht vieles im Dasein, das wir nicht begreifen. Einige von uns haben ihn gefragt, ob er Gott gesehen habe da oben, aber der Astronom spricht nicht von Gott, vielleicht reicht es, den Himmel und Latein zu haben, die Sterne lassen einen nie im Stich, und das lässt sich von Gott leider nicht behaupten. Die Sterne sind unendlich nah, wenn auch wir Alltagsmenschen Sterne und Nähe nicht leicht unter einen Hut bringen. Reykjavik ist ja schon ein gehöriges Stück weit weg, Sydney in endloser Ferne, und doch ist es nur ein Katzensprung im Vergleich zum Mars, dem nächsten Planeten, in 230 Millionen Kilometern Entfernung. Dahin wäre der Astronom mit seinem alten Mazda, der es – allerdings nur bergab mit Rückenwind – gerade mal auf 110 Stundenkilometer bringt, ganz schön lange unterwegs. Aber natürlich verhält sich alles ganz anders und genau entgegengesetzt, die meisten Wörter haben so viele Seiten, dass uns schwindlig wird, der Mensch, mit dem du zusammenlebst, kann zum Beispiel gleichzeitig noch viel weiter von dir entfernt sein als der Mars, und kein Teleskop und kein Raumschiff können den Abstand zwischen euch überbrücken. Aber keiner lebt vom Himmel allein, es ist Jahre her, seit die Strickfabrik geschlossen wurde, seit bald
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