Sommermond
Fingerspitzen auf der blau angelaufenen Schwellung. Dann nahm er den Verband, presste dessen Anfang auf Alex‘ Knöchel und begann ihn anschließend zu umwickeln.
Alex musterte ihn noch immer skeptisch. Die fast freundschaftliche Fürsorge fühlte sich gut an, weckte aber dennoch Zweifel in ihm. In seinem bisherigen Leben hatte er schon vieles erlebt und glaubte deshalb nicht mehr an das Gute im Menschen. Es gab fast immer einen Haken. Und nach diesem suchte er in Juans Verhalten.
„Warum tust du das?“, fragte er deshalb.
Juan zog den Verband straff und hielt das Ende mit dem Zeigefinger fest. Mit der freien Hand zog er die schmale Rolle Tape aus der Tüte. Dabei entdeckte Alex eine lange Narbe an seinem Hals.
„Was ist da passiert?“, rutschte es sofort aus ihm heraus.
Als Juan zu ihm aufsah, deutete Alex in Richtung seines Halses.
Juan zuckte mit den Schultern. Mit seinen Zähnen riss er ein Stück Tape von der Rolle und fixierte damit den Verband.
„Du denkst, es hat dich schlimm getroffen“, sagte er dann und stopfte die Sachen zurück in den Beutel, um ihn gleich darauf wieder unter seinem Pullover verschwinden zu lassen. „Aber das hat es nicht.“
Alex zog seine Augenbrauen kritisch zusammen. Er wollte etwas erwidern, hielt es aber für unpassend und schwieg deshalb. Juan griff nach der Socke und streifte sie ihm über. Das gleiche tat er mit Alex‘ Schuh.
„Das hier ist harmlos“, fuhr Juan fort. „Die werden dich gehen lassen, sobald du weißt, was du zu tun hast.“ Er stockte kurz und ließ Alex‘ Fuß behutsam aus seinen Händen gleiten. „Ist ‘ne große Sache, glaub‘ ich.“
Alex musterte ihn. Gespannt wartete er darauf, dass er fortfuhr.
„Aber im Grunde bist du ein Niemand“, sagte Juan. „Es ist was anderes, wenn du in diesen Mist hineingeboren wirst.“
Alex traute seinen Ohren nicht. Er wusste nicht, wie alt Juan war, aber allenfalls zu alt, was bedeutete, dass er den ganzen Scheiß schon viel zu lange mit sich herumtrug.
„Wie alt bist du?“, fragte Alex und klang dabei neugieriger als gewollt.
„Ich werd‘ bald siebzehn“, antwortete Juan.
„ Siebzehn? “ Alex‘ Stimme nahm eine schrille Höhe an. Er hatte Juan viel älter geschätzt.
Juan nickte, mied jedoch jeglichen Blickkontakt.
„Von Geburt an kriminell kann man sagen“, sagte er und lächelte gezwungen. Dabei erinnerte er Alex ein wenig an sich selbst, wie er noch vor wenigen Minuten wie ein Wahnsinniger über absurde Dinge gelacht hatte.
„Das hast du nicht verdient“, erwiderte er und sprach so einfühlsam, dass es ihn selbst überraschte.
„Das hat niemand verdient“, entgegnete Juan.
Alex wollte zunächst nicken, blieb dann aber regungslos sitzen. Er gab Juan Unrecht. Seiner Meinung nach gab es reichlich Menschen, die etwas Derartiges verdient hätten. Kinderschänder zum Beispiel oder der Typ, der ihn vorhin dazu hatte zwingen wollen, seinen dreckigen Schwanz in den Mund zu nehmen.
Diese Ansicht behielt er allerdings für sich.
„Kannst du dich nicht wehren?“, fragte Alex. „Was ist mit deiner Mutter?“
Juan senkte den Blick. Das war Antwort genug.
Alex schwieg eine Weile, bevor er mitfühlend seufzte. „Das tut mir leid“, flüsterte er.
Der Südländer zuckte unberührt mit den Schultern. Er stützte sich mit den Händen auf die Knie und richtete sich auf.
„Glaub mir“, sagte er dann, „ich hab‘ versucht mich zu wehren. Ich hab‘ sogar gehofft, dass die mich umbringen.“ Er stockte und schluckte laut. „Aber das tun die Scheißkerle nicht. Die foltern einen so lange, bis man sich fügt. Das können Stunden sein oder Tage …“ Erneut pausierte er. „Manchmal auch Wochen.“
Bei diesen Worten jagte ein kalter Schauer über Alex‘ Rücken. Er wusste nicht, an was er zuerst denken sollte. An Juans Vergangenheit oder seine Gegenwart.
„Deshalb tu, was die sagen!“, fügte Juan nachdrücklich hinzu. „Das ist allemal besser als alles andere.“
Alex‘ Mund stand halb offen. Er beobachtete, wie Juan zurück zur Tür trat. Er hatte Mitleid mit ihm und erinnerte sich an seine ersten Worte zurück. Er musste ihnen recht geben. Im Vergleich zu Juan hatte es ihn nicht allzu schlimm getroffen. Ein paar Prellungen, eine Stauchung vom Sturz und vielleicht eine gebrochene Nase. Das war nichts im Vergleich zu dem unausgesprochenen Vertrag, der Juan in die Wiege gelegt worden war.
„Danke“, war das Einzige, was Alex leise hervorbrachte. „Für
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