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Sommermond

Titel: Sommermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. Hart
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warm, warm, warm.“
    Doch ihm wurde nicht warm. Er verfehlte die psychosomatische Wirkung. Dabei hatte er schon oft von der Kraft der Gedanken gehört. Wahrscheinlich handelte es sich dabei aber nur um pseudowissenschaftliches Geschwafel. Bei ihm schlug es jedenfalls nicht an. Im Gegenteil. Mit jeder Sekunde kühlte er stärker aus. Die Kälte zerfraß ihn. Sie begann bei seinen Zehen und Fingerspitzen, arbeitete sich von dort aus in Hände und Füße und sog sich dann an ihm herauf wie Wasser an einem Schwamm.
    Er zitterte. Auch seine Lippen fühlten sich taub an. Trotzdem gab es einen positiven Nebeneffekt: Die Kälte betäubte seine Schmerzen.
    Schon wieder musste er vor lauter Selbstironie auflachen. Seine unartikulierten Laute schallten in den steinernen vier Wänden und klangen dumpf ab. Alex beruhigte sich wieder. Erst grinste er noch gequält, dann schaute er ernst vor sich ins Leere und brach anschließend erneut in Tränen aus. Er vergrub das Gesicht in seinen Händen und schluchzte. Das Adrenalin, das sich dabei freisetzte, heizte ihn etwas auf. Aber nur kaum. Noch immer überwog die brennende Kälte, die sich immer weiter vorarbeitete und kurz davor war, ihm die Kehle zuzuschnüren. Alex löste seine Hände aus dem Gesicht und krallte sie stattdessen in seinen Kopf. Er fühlte die Folgen der Misshandlungen, spürte die einzelnen Haarstoppeln, die sich anfühlten wie ein schlecht gemähter Rasen. Vereinzelte Tränen rannen aus seinen Augen. Doch im Gesamten hielt dieser Weinkrampf kürzer an als sein letzter; und als er vorbei war, fühlte Alex sich wieder mehr wie er selbst. Mehr in sich selbst, ein Bewohner seines Kopfes und Körpers, statt sich nur weiterhin wie ein Gespenst zu umschweben.
    Er nahm seine Hände vom Kopf und öffnete die Augen. Die letzten Tränen trockneten an seinen Wangen. Jetzt fühlte er sich befreiter und glaubte sogar, dass sein Verstand zu ihm zurückgekehrt war. Mit einem Mal vergaß er seine aussichtslose Situation und begann stattdessen konzentriert nach einer Lösung seines Problems zu suchen. Er wollte nicht in diesem Kellerloch versauern. Es musste einen Ausweg geben. Er würde tun, was immer die Kerle von ihm verlangten. Hauptsache, sie ließen ihn zurück in die Welt, in der er sein Leben weiterleben konnte.
    Er zog seine Beine an sich heran. So schlimm waren die Schmerzen in seinem Fuß nicht. Als Kind hatte er sich einmal den rechten Arm gebrochen. Im Urlaub. Er war auf einen viel zu hohen Zaun geklettert und rücklings heruntergestürzt. Der dänische Arzt hatte ihm damals gesagt, dass er unglücklich gefallen wäre, aber Glück gehabt hätte. War das nicht absurd? Er war unglücklich gefallen, hatte aber Glück gehabt.
    Erneut musste Alex dumpf auflachen, beruhigte sich aber gleich wieder. Er wollte das letzte bisschen Verstand nicht gleich wieder verscheuchen, wo es doch gerade erst zu ihm zurückgekehrt war. Also schüttelte er seinen derzeitig schlechten Humor von sich und versuchte seinen Gedanken zu Ende zu führen. Also. Als Kind hatte er sich einen Arm gebrochen. Diese Schmerzen würde er nie vergessen. Sie waren anders gewesen. Als er sich mit seinem Vater auf den Weg zum Arzt gemacht hatte, hatte jede Unebenheit der Straße einem Messerstich in seinen Arm geglichen. Doch sein jetziger Knöchel fühlte sich anders an. Er brannte und pochte etwas. Alex vermutete, dass er nur verstaucht war. Wenn überhaupt.
    Er nickte zufrieden und führte seine Hand zur Nase. Vorsichtig tastete er mit seinen Fingern über ihren Rücken. Sie schmerzte tatsächlich. Schon bei der kleinsten Berührung. Sie könnte wirklich gebrochen sein. Aber sicher war er sich nicht. Er war kein Arzt. Er war ja nicht einmal Architekt oder Student. Eigentlich war er gar nichts. Deshalb wusste er auch nichts.
    Schon wieder musste er leise auflachen. Als er aufhörte, schüttelte er grinsend den Kopf. Seine Situation kam ihm fast komisch vor. Vielleicht war das auch der Schock. Er glaubte, so etwas schon oft gehört zu haben. In Extremsituationen reagierte der menschliche Verstand merkwürdig, versuchte sich offenbar selbst zu schützen.
    Alex seufzte. Die Kälte zog derweilen unter seine Jacke und legte eine brennende Gänsehaut auf seine Brust.
    „Noch ein Stück höher …“, nuschelte Alex, „… und ich krieg‘ keine Luft mehr.“
    Das glaubte er tatsächlich. Schon jetzt atmete er so stockend, dass er das Gefühl hatte, seine Lunge würde sich nicht mehr weit genug ausdehnen können.

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