Sommermond
dich aber nicht gewehrt?“
„Ich …“
„Schon okay“, unterbrach ihn Juan. Er trat einen Schritt nach vorn und legte eine Hand auf Alex‘ Schulter. „Ich will dein Freund sein. Mehr nicht.“ Er pausierte und vergewisserte sich flüchtig, dass niemand in der Nähe war und sie belauschte. „Zumindest für die Zeit, in der du einen brauchst.“
Alex warf ihm einen kritischen Blick zu, woraufhin Juan leise auflachte.
„Ehrlich!“, verteidigte er sich.
Alex nahm seinen Kopf ein Stück weit zurück und musterte Juan. Der junge Spanier sah gepflegt aus und hatte ein schönes Gesicht: dunkle Haare, ehrliche Augen, schmale Lippen und einen gesunden Teint, der lediglich von dem grünblauen Bluterguss auf seiner Wange durchbrochen wurde.
„Nicht schwul?“, hakte Alex nach.
Juan schüttelte den Kopf. „Nicht schwul“, bestätigte er.
Alex sah ihm ein letztes Mal fest in die Augen, bevor er knapp nickte. Er glaubte ihm. Dennoch verstand er nicht, warum Juan derart um ihn bemüht war. Wenn der Jugendliche tatsächlich sein Freund sein wollte, wusste er nicht, womit er dieses Quäntchen Glück verdient hatte.
Juan wandte sich ab und deutete mit seiner Hand in Richtung des hinteren Flurteils.
Alex‘ Blick folgte dieser Geste. Erst jetzt begann er, sich genauer in der Wohnung umzusehen. Zwischen den rotgestrichenen Wänden schlängelte sich alter Dielenboden, auf dem ein grauer Teppich lag, der vermutlich vor Jahren weiß gewesen war. Außer der schwarzen Kommode befand sich nur eine kleine Garderobe im Flur. Zigarettenqualm hing wie Nebel in der Luft und verpasste der schäbigen Atmosphäre ihren letzten Schliff.
Alex hatte keine Ahnung, wo er war. Er wusste nur, dass dieses Quartier in keiner Weise dem letzten ähnelte. Diese Wohnung schien erst kürzlich geräumt worden zu sein und erinnerte in ihrer simplen Aufmachung an eine Singlewohnung, bei deren Gestaltung sich der ehemalige Bewohner nicht allzu viel Mühe gemacht hatte.
Juan ging voran und deutete Alex an, ihm zu folgen. Der Blonde blieb noch einen letzten Moment stehen, bevor er gehorchte. Unsicher trat er an der Kommode vorbei. Aus ihren überfüllten Schubladen quollen Handschuhe und Mützen. Dann streckte er seine Hand nach rechts aus und ließ seine Finger beim Gehen über die rote Raufasertapete gleiten. Während er jeden noch so winzigen Hubbel unter seinen Fingerkuppen spürte, durchfuhr ihn für wenige Sekunden ein verrückter Gedanke. Er stellte sich vor, dass diese makellose Wand erst kürzlich rot gestrichen worden war, nachdem einer der spanischen Handlanger den früheren Bewohner ermordet und dessen tiefrotes Blut große Flecken auf ihr hinterlassen hatte.
Als eine Tür kam, hob er seine Hand und führte sie erst hinter dem Rahmen zurück an die Wand. Als er dann etwas später gänzlich von ihr abließ, schüttelte er zeitgleich die fantasievollen Gedanken von sich.
Im Flur gab es zwei weitere Türen. Eine geradeaus, die andere zu seiner Linken. Als sie bei Letzterer ankamen, wurde er plötzlich so grob von Juan herumgerissen, dass er Mühe hatte, sein Gleichgewicht zu halten. Die nächsten Schritte taumelte er vorwärts, bevor er sich inmitten eines mickrigen Wohnzimmers wiederfand, an dessen hinteren Wand sich eine beige Sitzgarnitur befand. Direkt davor ein moderner Plasmafernsehr, auf dem ein Sportkanal lief.
Auf der Couch saßen zwei Männer. Den linken erkannte Alex sofort. Es war der Typ mit der Narbe im Gesicht, der ihm am besagten Abend das mit Chloroform getränkte Taschentuch ins Gesicht gepresst und ihn anschließend entführt hatte. Neben ihm saß ein Deutscher, der seinen fetten Körper hinter hässlicher Kleidung verbarg. Auf seinem Kopf glänzte eine Halbglatze, die von einem braungrauen Haarkranz umzäunt war. Alex schätzte ihn auf Mitte vierzig.
Er schaute ihn lange an. Der Kerl passte nicht in die Runde, wie er stocksteif dasaß und an seinen Fingernägeln pulte. Alex trat einen Schritt näher und betrachtete ihn gründlicher. Und dabei fand er, wonach er gesucht hatte: Angst.
„Wer ist er?“, fragte er, ohne zuvor darüber nachgedacht zu haben.
Der Spanier, der am Fenster stand und rauchte, lachte dumpf auf.
„Wir brauchten einen schnellen Unterschlupf und er gab uns einen schnellen Unterschlupf“, erwiderte er trocken.
Alex‘ Mund klappte auf. Er suchte nach Blickkontakt zu Juan, fand aber keinen. Der junge Spanier setzte sich neben den Kerl mit der Narbe und zog eine Tüte Chips auf seinen
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