Sommermond
infolgedessen dafür büßen musste. Ihn beschlich das Gefühl, dass der Spanier dies mit Absicht getan hatte. Einfach, um noch mehr Druck auf ihn auszuüben und ihm das Ausmaß seiner Macht zu verdeutlichen. Der Spanier würde den Kerl umbringen. Das wusste Alex, und genau dieses Wissen machte ihm zu schaffen, weil er nichts dagegen unternehmen konnte.
„Das ist nicht euer neues Quartier, oder?“, dachte er laut.
Juan schüttelte den Kopf. „Das ist nur ein kleiner Racheakt, an dem du teilhaben sollst.“
„Deshalb die Augenbinde“, dachte Alex weiter. „Damit ich euch nicht verpfeife, bevor alle Spuren beseitigt sind.“
Dieses Mal nickte Juan. „Vermutlich. So weißt du nicht, wo wir sind.“
Alex fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. Dann schloss er seinen Mund. Statt das Gespräch mit Juan weiterzuführen, griff er nach dem elektrischen Rasierer, der auf einem hässlichen, beigen Ablageregal über dem Waschbecken für ihn bereit lag. Er überprüfte kurz, ob er funktionierte, bevor er sich vor den ovalen Spiegel stellte und die Klinge an seinen Kopf setzte. Dann stockte er und nahm den Rasierer noch einmal herunter. Er warf einen flüchtigen Blick auf den Aufsteck-Kamm und überprüfte den Schneidgrad. Auf dem schwarzen Plastik war schwach die Zahl 12 zu lesen.
Scheiße, dachte Alex, bevor er den Apparat wieder hob und zurück an seinen Kopf führte.
Er hatte so etwas noch nie gemacht und wusste nicht einmal, wie man das Gerät bediente. Deshalb handelte er nach Gefühl, schaltete es an und zog den Rasierer entgegen der Haarrichtung. Das laute Surren dröhnte dabei in seine Ohren und machte ihm nur allzu deutlich, dass dies kein Traum war. Vorsichtig arbeitete er sich an seiner Stirn vorbei und befreite seinen Kopf von den ungleichmäßigen Haarrückständen. Der Rasierer funktionierte wie ein Rasenmäher und hinterließ bei jedem Zug eine gleichmäßig geschnittene Bahn. Die vielen Haarstoppel sammelten sich auf seiner Kleidung und fielen teilweise zu Boden.
„Sich das Gesicht zu rasieren ist einfacher“, sagte er, während er sich abmühte, an seinem Hinterkopf weiterzumachen.
„Soll ich dir helfen?“, fragte Juan.
Alex zögerte einen Moment, bevor er laut aufseufzte und nickte. Juan erhob sich daraufhin vom Klodeckel und stellte sich wie ein Friseur hinter ihn. Er nahm den Rasierer und führte Alex‘ begonnenes Werk schließlich fort. Da seine Haare am Hinterkopf noch recht lang waren, schob Juan den Rasierer gleich mehrmals über jede Stelle. Dabei durchzogen Alex starke Schmerzen, die ihn sofort an den harten Schlag gegen die Steinwand erinnerten. Blonde Haarsträhnen fielen zu Boden und sammelten sich um ihre Füße. Alex blickte vor sich in den Spiegel. Mit einem ernsten Gesichtsausdruck betrachtete er sich.
„Das sieht sowas von scheiße aus“, murmelte er dabei.
„So schlimm ist’s doch gar nicht“, erwiderte Juan, während er noch das letzte Stück hinter Alex‘ Ohr rasierte. Als er fertig war, nahm er den Rasierer herunter, schaltete ihn aus und legte ihn zurück auf das Ablagebrett. Wie selbstverständlich klopfte er die Haarstoppel von Alex‘ Rücken und Schulter und stellte sich anschließend neben ihn vor den Spiegel.
„Sieht auf jeden Fall weniger schwul aus“, sagte er.
„Ich hatte meine Haare schon immer so … Auch, als ich noch nicht schwul war“, entgegnete Alex und bezog sich damit auf seine alte Frisur.
„Du meinst“, korrigierte ihn Juan, „als du noch nicht wusstest , dass du schwul bist.“
Alex stöhnte genervt auf. Er wollte etwas erwidern, hatte aber weder Lust noch Kraft für eine müßige Diskussion. Stattdessen neigte er seinen Kopf einmal zu beiden Seiten und betrachtete sich aus den verschiedenen Perspektiven. Zur zusätzlichen Bestätigung fuhr er sich mit den Händen über den Kopf. Das fühlte sich ungewohnt an. Er sah anders aus. Sein ganzes Gesicht hatte sich verändert. Es schien nun viel größer. Seine Stirn wirkte höher, seine Wangenknochen stachen stärker hervor und seine Augenbrauen stellten zum ersten Mal etwas Markantes in seinem Gesicht dar. Und ja, mit seinem seichten Dreitagebart sah er tatsächlich erwachsener und männlicher aus.
Er betrachtete sich noch eine Weile wie ein Narzisst, bevor er seinen Blick schulterzuckend abwandte. „Man gewöhnt sich dran“, sagte er dazu.
„Man gewöhnt sich an alles“, bestätigte Juan.
Alex warf ihm einen kritischen Blick zu. Die Zweideutigkeit in dessen Worten war kaum
Weitere Kostenlose Bücher