Sommermond
geflirtet hatte, war nun kaum noch vorzustellen.
Alex rutschte seitlich über die Rückbank, tastete nach der Karosserie und kletterte vorsichtig aus dem Wagen. Als er draußen war, wurde er grob von Juan gepackt und mitgezerrt. Sein verstauchter Fuß hatte sich während der Fahrt von gefühlten 30 Minuten etwas erholt. Er musste zwar humpeln, konnte aber unter geringen Schmerzen auftreten.
Sie schritten über Asphalt, der an einem Bordstein endete. Dann folgte rauer Teer, vermutlich von einer Straße, und anschließend ein weiterer Bordstein. Nur wenige Meter weiter wurde er von Juan eine Treppe hinaufgeführt. Von vorn hörte er, wie der Spanier eine Tür aufschloss, die sie anschließend passierten. Dann folgte ein Flur, in dem ihre Schritte laut hallten. Es stank nach altem Zigarettenqualm und Bier. Fast permanent fuchtelte Alex wie ein erst kürzlich Erblindeter mit seinen Händen vor sich in der Luft. Das war ein Reflex, gegen den er nichts tun konnte. Nach weiteren Metern blieb Juan stehen, ergriff seine Hand und führte sie an ein kaltes Treppengeländer. Alex hielt sich daran fest und schob seine Hand mit jeder Stufe, die er nahm, ein paar Zentimeter vorwärts. Auf diese Weise wurde er bis in den dritten Stock gebracht. Der Gestank nach Alkohol, Zigaretten und Pisse wurde stärker. Vorsichtig setzte Alex einen Fuß vor den nächsten. In der Ferne hörte er eine fremde Stimme. Dann folgte eine weitere Tür. Juan schob ihn mit sanfter Gewalt vorwärts. Aus der kühlen Luft im Treppenhaus wurde Wärme, die ihn umhüllte wie warmer Nebel. Daraus schloss er, sich nun in einer Wohnung zu befinden. Diese Vermutung wurde schließlich bestätigt, als Juan von ihm abließ, eine Tür hinter sich zuschob und sie mit mehreren leisen Klicks verriegelte.
Alex blieb unsicher stehen. Er wusste nicht, was er tun oder sagen sollte, und kam sich vor wie eine Marionette. Den Spanier konnte er nicht mehr in seiner Nähe hören. Vorsichtig trat er einen Schritt vorwärts, wurde jedoch im gleichen Moment sanft zurückgehalten. Es war Juan, der ihn am Arm festhielt und sich anschließend eng hinter ihn stellte. Er hob seine Hände und legte sie an Alex‘ Kopf. Dieser schloss unbewusst die Augen, als ihn die seltsame Situation ungewollt an Ben erinnerte. Ein Brennen jagte durch seinen Magen. Juan ließ seine Hände zum Knoten der Augenbinde wandern und lockerte ihn vorsichtig. Der raue Stoff rutschte aus Alex‘ Gesicht und blieb an seinem Hals hängen. Juan löste den zweiten Knoten und zog den Schal behutsam von Alex‘ Schulter. Anschließend trat er ein paar Schritte zur Seite und legte ihn auf eine schwarze Kommode.
Alex stand noch immer unsicher im Raum und beobachtete hypnotisiert jede noch so kleinste Bewegung des Südländers. Der befreite sich gerade aus seiner Jacke und warf sie in eine hintere Ecke. Als er sich erneut zu Alex umdrehte, bildete sich ein schüchternes Lächeln auf seinen Lippen. Er schritt zu Alex, legte seinen Zeigefinger an dessen Kinn und schob es vorsichtig nach oben. Dann schaute er ihm fest in die Augen.
„Du schaffst das!“, sagte er bestimmt. „Du hast schon viel mehr geschafft.“
Alex sah ihn nachdenklich an und fragte sich einen Moment, wer von den beiden in Wahrheit der Ältere und Erfahrenere war. Dann nickte er kaum merklich.
„Mach dir keine allzu großen Hoffnungen“, sagte er dazu. „Ich bin vergeben und ...“
Er brach ab und stockte.
„Und?“, hakte Juan nach. Er zog seine Hand zurück und lächelte erneut.
Alex wollte antworten, schaffte es aber nicht. Er wollte sagen, dass er das Ganze nur wegen seinem Freund auf sich nahm. Doch zeitgleich schlug die Erinnerung an das letzte Telefonat mit Ben wie ein Blitzschlag in seinen Verstand und hinterließ eine unangenehme Leere. Denn in Wahrheit zweifelte er daran, ob er und Ben noch zusammen waren.
Er musste stark schlucken und schluckte damit auch seine Melancholie herunter.
„Und du bist viel zu jung für mich“, fügte er seinen angefangenen Satz schließlich zu Ende. Das war nicht das, was er zu sagen geplant hatte, passte aber in die Situation.
„Gut“, meinte Juan daraufhin und grinste kurz.
„ Gut? “, wiederholte Alex.
„Ja, gut“, entgegnete Juan. „Gut, weil ich überhaupt nicht schwul bin.“
Alex zog seine Augenbrauen kritisch zusammen.
„Und das im Wagen?“, platzte es dann aus ihm heraus. „Was sollte das mit deiner Hand?“
„Ach?“ Juan zog eine Augenbraue hoch. „Du hast es gemerkt,
Weitere Kostenlose Bücher