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Sommermond

Titel: Sommermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. Hart
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fragte er sich, ob es Zufall war, dass der Spanier sein provisorisches Lager in der Wohnung des Pädophilen aufschlug oder ob er die skurrile Menschlichkeit besaß, ein Opfer aus der Menschenmasse zu picken, das seinen Tod vielleicht mehr verdient hatte als jemand anderes.
    Der Spanier wandte sich vom Regal ab, schritt zur Fensterbank und griff nach einem Stapel Klamotten. Mit ihnen zwischen beiden Händen ging er zu Alex zurück.
    „Hier“, sagte er dazu. „Du ziehst dich jetzt erst mal um und rasierst dir die Haare! Du siehst aus wie ein geficktes Huhn.“
    Alex stand noch immer wie erstarrt neben dem Regal mit einem Gesichtsausdruck, der seine Fassungslosigkeit und Überforderung widerspiegelte. Geistesabwesend nahm er den Kleiderstapel entgegen und warf nebenbei einen weiteren Blick zum Fernseher.
    83:58, 83:59, 84:00…
    „Juan, du begleitest ihn!“, befahl der Spanier quer durch den Raum.
    Der Angesprochene nickte, schob die Chipstüte von seinen Beinen und stand auf. In schnellen Schritten eilte er zu Alex und drückte ihn mit sanfter Gewalt vom Regal. Alex‘ Mund stand noch immer halb offen. Mit verzerrtem Blick starrte er auf den großflächigen Fernsehbildschirm und versuchte all das zu verarbeiten, was gerade um ihn herum geschah.
    „Komm!“, sagte Juan und schob ihn ein Stück vorwärts.
    Doch Alex regte sich nicht. Sein Körper war wie festgefroren. Wie in Zeitlupe ließ er seinen Blick vom Fernseher zu Juan schweifen und starrte den Schwarzhaarigen hilflos an. Der schüttelte kaum merklich den Kopf. Seine Lippen formten lautlose Worte, die Alex nicht deuten konnte.
    Schließlich gab er auf und fügte sich der Anweisung des Spaniers. Er ließ sich von Juan in das winzige Badezimmer der Wohnung führen und drückte die Tür hinter sich zu. Er atmete tief durch und lehnte sich gegen das weiß lackierte Holz.
    „Fuck …“, nuschelte er, schloss seine Augen und legte seinen Kopf in den Nacken.
    „Alex, bitte!“, erwiderte Juan. „Zieh dich um, bevor wir Ärger kriegen!“
    Alex öffnete die Augen und starrte sein Gegenüber ausdruckslos an. Ganz schleichend wurde seine Überforderung von Leere überflutet. Dann begann er plötzlich, wie eine Maschine zu handeln. Er betrachtete das Bad nicht genauer, beugte sich vor, wusch sich zunächst gründlich das Gesicht und befreite sich anschließend aus seinem Hemd. Dabei entdeckte er zwei großflächige Blutergüsse an seinen Seiten.
    „Autsch …“, machte Juan und kniff sein linkes Auge mitfühlend zusammen.
    Alex ignorierte ihn. Er nahm den schwarzen Pullover vom fremden Klamottenstapel und stülpte ihn über seinen Kopf. Er schlüpfte mit seinen Händen durch die viel zu weiten Ärmel und zog den Stoff anschließend an seinem Oberkörper herunter.
    „Die werden ihn umbringen“, flüsterte er und sprach dabei so ruhig wie ein müder Bibliothekar, der einen von vielen Buchtiteln vorlas.
    „Ich weiß“, erwiderte Juan.
    Alex sah kurz zu ihm auf, bevor er sich an seiner Hose zu schaffen machte und sie an seinen kalten Beinen entlang zu Boden zog. Dann kämpfte er sich mit seinem verletzten Fuß aus der zusammengestauchten Jeans und warf sie anschließend neben sich in die Ecke. Das Gleiche tat er mit seiner Boxershorts – nur, dass er sich dieses Mal mit dem Rücken zu Juan drehte. Als er fertig war, fischte er sich die frische Kleidung und zog sie über. Im Vergleich zum Pullover passte die Hose ganz gut. Während er ihren Knopf in den dazu gehörigen Schlitz drückte, wandte er sich zurück an Juan.
    „Findest du das fair?“, fragte er nachdenklich.
    „Na ja“, erwiderte Juan, „die anderen Sachen standen dir zwar besser, aber diese hier sind doch deutlich sauberer.“
    Alex schüttelte kräftig den Kopf. „Das mein‘ ich nicht“, sagte er. „Ich mein‘ den Kerl da.“ Er nickte kurz Richtung Tür. „Findest du‘s gerecht, dass die ihn umbringen?“
    Das war eine ernst gemeinte Frage. Er fühlte sich nicht dazu in der Lage, sich ein Urteil darüber zu bilden. Er war nicht Gott, der entscheiden konnte, wer für seine Taten bestraft werden musste.
    „Er hat mal dazu gehört“, riss ihn Juan aus den Gedanken. „Dann ist er untergetaucht. Ich glaub‘, Schulden hatte er auch noch.“
    Alex hörte zu und nickte kaum merklich. Es erschien ihm schon fast als ausgeklügelte, psychoterrorisierende Taktik, dass der Spanier ihn an diesen Ort gebracht hatte. In eine Wohnung, in der jemand lebte, der seine Schulden nicht getilgt hatte und

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