Sommermond
der Nacht kaum Schlaf gefunden hatte. Ständig hatte er sich von einer auf die andere Seite gewälzt. Stundenlang. Fast minutiös hatte er einen Blick auf sein Handy geworfen und darauf gewartet, dass Alex sich meldete.
Die Rückfahrt vom Vortag hatte er gut überstanden. Nick und er hatten sich die ganze Restfahrt angeschwiegen und waren in Flensburg mit einer knappen Verabschiedung auseinandergegangen. Das war Ben nur recht. Er hatte jetzt keinen Kopf, sich mit derart unwichtigen Dingen auseinanderzusetzen. Für ihn war Nick Geschichte. Sollte dieser doch noch an einer reinen Freundschaft interessiert sein, bei der er sich auch dementsprechend verhielt, würde Ben für ein weiteres Gespräch bereit sein. Aber erst einmal brauchte er Abstand und Nick brauchte ihn auch.
Er schritt zum Bett und setzte sich. Vorsichtig zog er seine Beine nach oben, um sich hinzulegen. Die Schmerzen an seinem Oberkörper waren zwar erträglich, doch bei bestimmten Bewegungen, wenn er sich beispielsweise krümmte, spürte er sie noch recht stark.
Er legte sich auf die Seite, zog die Decke über seinen Körper und klemmte sich ein Stück von ihr zwischen die Knie. Das war eine seiner seltsamen Angewohnheiten. Er mochte es nicht, wenn beide Knie nackt und hart aufeinandertrafen.
Seine ganze Situation machte ihm zu schaffen. Seit seinem Praktikum bei Jo gab es immer neue Probleme. Seine psychische Belastungsgrenze war längst überschritten. Zumindest glaubte er das. In Wahrheit war noch Spielraum nach oben. Ansonsten hätte er schon lange nicht mehr funktioniert. Aber die Welt drehte sich weiter. Er hatte sein Leben, das er leben wollte, und Verpflichtungen, denen er nachgehen musste. Er konnte sich nicht auf einer künstlichen Ausrede ausruhen, zu erschöpft für den Alltag zu sein. Das war nicht seine Art und erst recht nicht sein Charakter.
Dennoch konnte er an nichts anderes als Alex denken. Er verstand ihn nicht. Wieso hatte er ihre kurzzeitige Beziehung derart schnell auf Eis gelegt? Nur, weil er und Ben in Bezug auf die Kripo nicht einer Meinung gewesen waren? Das passte nicht zusammen. Noch wenige Stunden vor ihrem Streit waren sie miteinander intim geworden, Alex hatte ihm seine Liebe gestanden und ihm offenbart, wie sehr er sich um ihn sorgte. Und auch wenn Alex nun sauer und enttäuscht war, hätte er sich zumindest von Ben verabschieden können. So etwas zeigte Stärke.
Ben hob seine linke Hand und massierte sich die Augenpartie. Als er sie wieder senkte, kniff er seine Augen noch einmal fest zusammen und seufzte anschließend leise auf. Auf seinem Nachtschrank lag das Foto, das er sich aus Alex‘ Album genommen hatte. Er streckte seine Hand aus, um nach ihm zu greifen. Doch im gleichen Moment zuckte er zusammen, als sich unerwartet die Tür öffnete und ihn das plötzliche Knarren aus den Gedanken riss.
„Gute Morgen“, begrüßte ihn seine Mutter lächelnd.
Ben blickte irritiert zu ihr auf. Neben der Tatsache, dass es fast 12 Uhr war, passte auch das Essenstablett mit der darauf liegenden Thunfischpizza nicht zu ihrer Begrüßung.
Sie trat zum Nachtschrank und stellte das Tablett auf ihm ab.
„Dein Lieblingsessen“, sagte sie dazu.
Der Geruch nach Fisch und Zwiebeln stieg Ben in diese Nase, verdarb ihm aber unmittelbar nach dem Aufstehen den Appetit.
Seine Mutter setzte sich auf die Bettkante und reichte ihm ein Glas Wasser.
„Wie geht’s dir heute?“, fragte sie.
Ben zuckte mit den Schultern. In Wahrheit ging es ihm miserabel. Doch er wollte die Stimmung seiner Mutter nicht herunterziehen.
„Schon besser“, antwortete er deshalb. Er richtete sich etwas auf und streckte sich. „Viel besser.“
„Hat Alex sich noch bei dir gemeldet?“, fragte sie weiter und streifte sich eine braune Haarsträhne hinters Ohr. Das tat sie immer, wenn sie mit einem redete.
Ben schüttelte den Kopf. „Nein, hat er nicht.“
Er nahm das Glas und trank ein paar Schlucke.
„Möchtest du was essen?“, fragte seine Mutter, während sie den Pizzateller demonstrativ anhob.
Ben verzog sein Gesicht und schüttelte erneut den Kopf. Dieses Mal kräftiger.
„Keinen Hunger“, murmelte er.
„Mensch, Ben!“ Seine Mutter klang besorgt. „Du hast gestern schon nicht zu Abend gegessen und heute nicht gefrühstückt. Dabei ist das so wichtig für deine Genesung.“
Ben zuckte unberührt mit den Schultern. Er verhielt sich wie ein kleines Kind, welches das Leben nur durch einen eingeschränkten Blickwinkel
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