Sommermond
Arme.
„Ich muss jetzt wirklich“, entschuldigte er sich, als er sich wieder von ihr wegdrückte. „Ich bin ja bald wieder da.“
„Hauptsache, du kommst rechtzeitig zu deiner Abschiedsparty“, erwiderte seine Mutter. „Ich glaube, Max, Isa und Peer haben schon eine Menge organisiert.“
Erneut lächelte Ben. Ja, er hasste Partys. Aber zu einer Abschiedsfeier hatte er sich breitschlagen lassen.
„Die ist ja erst in einer Woche“, erwiderte er. „Bis dahin bin ich längst zurück.“
Seine Eltern nickten.
„Also dann!“, meinte Ben, drehte sich um und griff nach der Türklinke. „Ich meld‘ mich!“
„Mach’s gut, mein Schatz!“, sagte seine Mutter noch. „Ich denke an dich und drücke dir die Daumen!“
Ben lächelte ihnen ein letztes Mal zu, bevor er die Tür aufzog und in die sommerliche Abenddämmerung trat. Er pulte seinen Schlüssel aus der Hose, trat zu seinem Auto und öffnete den Kofferraum. Dort legte er die schwere Tasche hinein, warf die Klappe anschließend zu und ging zur Fahrertür. Er zog sie auf, setzte sich hinters Steuer und steckte den Schlüssel in die Zündung.
„Na, dann mal los!“, sprach er sich selbst Mut zu.
Er schnallte sich an und startete den Motor. Das Radio ließ er erst einmal aus. Er war zu aufgeregt und wollte sich auf den Straßenverkehr konzentrieren. Sein Herz hämmerte wie wild gegen seine Brust. Und das, obwohl er noch mehr als eine Stunde von Alex entfernt war.
Er fuhr ein Stück geradeaus und lenkte auf die Gartenstadtallee. Die Blätterdächer der Ahornbäume leuchteten golden in der untergehenden Sonne. Es sah fast herbstlich aus.
Ben konnte kaum fassen, was er gerade tat. Er war tatsächlich auf dem Weg nach Hamburg. Zum zweiten Mal in diesem Jahr – nur, dass er beim letzten Mal weniger aufgeregt gewesen war.
Bisher hatte er sich kaum Gedanken über diesen Kurztrip gemacht. Das Studium, seine Freunde und das Stipendium hatten ihn zu sehr abgelenkt. Es kam ihm vor, als ob jemand den Film vorgespult und er deshalb die Hälfte verpasst hätte. Dennoch fühlte sich das, was er tat, richtig an.
Er war noch immer vernarrt in Alex. Fast, als ob sie sich erst gestern gesehen hätten. Er konnte kaum glauben, wie viel Zeit in Wahrheit vergangen war. Mittlerweile glaubte er sogar, in Alex seine große Liebe gefunden zu haben. Wie sonst war es zu erklären, dass er sich auf niemand anderes mehr einlassen konnte? Nicht einmal auf Peer, obwohl er gut aussah und charakterlichen so wertvoll war. Doch in Bens Kopf gab es nur Alex. Er musste ihn noch einmal sehen, noch einmal mit ihm reden. Sie hatten beide Fehler gemacht. All die Dinge unausgesprochen zu lassen, erschien ihm allerdings als falsch. Offenbar wagte Alex nicht den ersten Schritt. Deshalb tat er ihn jetzt. Im Grunde konnte es nur besser werden. Das war die Hoffnung, an die er sich klammerte. Eine Zuversicht, die im Mut gab. Mut und Kraft, um für das zu kämpfen, was im Februar zwischen ihm und Alex entstanden war: Freundschaft und Liebe.
20
Alex stand vor seinem Schrankspiegel und knöpfte sein Hemd zu. Den obersten Knopf ließ er offen und lockerte den Kragen noch etwas. In dem weißen Stoff sah er nicht ganz so blass aus. Er legte sich eine silberne Armbanduhr um und knipste den Verschluss zu. Vom Ziffernblatt las er, dass es neunzehn Uhr war. Er sah auf, betrachtete sich im Spiegel und fuhr sich noch ein paar Mal mit gespreizten Fingern durchs Haar.
Er sah miserabel aus. Jegliche Lebenslust war aus ihm gewichen. Etwas besser fühlte er sich nur durch die nachgewachsenen Haare. Sie hatten jetzt vier oder fünf Zentimeter. Nun ließ sich wieder eine anständige Frisur aus ihnen machen. Ein paar Haarsträhnen fielen ihm auf die Stirn. Der Rest seiner Haare lag um einen erahnbaren Seitenscheitel an seinem Kopf. An seinem rechten Handgelenk trug er ein Lederarmband. In der Mitte des braunen Leders schlängelte sich ein Maschenmuster aus weißem Garn. Alex‘ letzter One-Night-Stand hatte es bei ihm vergessen. Heute Morgen hatte er es unter seinem Bett gefunden, anprobiert und sich seitdem nicht mehr davon trennen können. Er fand, dass es ihm stand. Es sah elegant aus.
Alex seufzte und trat zum Fenster. Draußen war es noch hell. Alles sah grün und lebendig aus. Die letzten Sonnenstrahlen verpassten dem idyllischen Bild ihren letzten Schliff und ließen erahnen, wie warm es draußen war. Doch Alex hatte keine Sommergefühle und wünschte sich auch keine. Deshalb streckte er seinen Arm aus
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