Sommermond
in der Lage. Deshalb hatte er Ben auch versprochen, dessen Besuch für sich zu behalten. Auf diese Weise verhinderten sie einen möglichen Fluchtreflex von Alex.
„Na ja“, erwiderte seine Mutter, „du weißt, was ich von alledem halte.“
„Ja“, entgegnete Ben, „und du weißt, was ich von dem halte, was ihr davon haltet.“
Seine Mutter warf ihm einen irritierten Blick zu.
„Mensch, Mum!“, quengelte Ben. „Ich bin alt genug. Ich weiß, was ich da tue.“
„Und wenn es nach hinten losgeht?“, fragte seine Mutter. „Was, wenn die Situation erneut eskaliert. Ich meine nur … Wir alle wissen nicht, was Alex in letzter Zeit getrieben hat. Aber Johannes hat genug erwähnt, was mir Sorge bereitet.“ Sie lehnte ihren Kopf etwas zur Seite und seufzte. Dann trat sie auf Ben zu und legte ihre Hände auf seine Arme. „Ich will nur nicht, dass dir wieder was passiert oder du enttäuscht wirst.“
„Werd‘ ich nicht“, entgegnete Ben. „Versprochen. Mittlerweile ist genug Zeit vergangen. Ich steh‘ über den Dingen.“
„Tust du das?“, hakte seine Mutter nach.
Ben sah ihr fest in die Augen. Dann senkte er seinen Kopf und blickte auf das zerknitterte Foto in seinen Händen. Als er Alex so sah, – und das Foto war die einzige Erinnerung, die sich nicht in seinem Kopf befand – musste er lächeln. Wenn er daran dachte, den Blonden bald wiederzusehen, schlich sich ein Kribbeln in seinen Magen. Dagegen war er machtlos. Peer hatte recht. Er liebte Alex noch. Sehr sogar. Daran konnten auch die drei Monate nichts ändern, die nun zwischen ihnen lagen. Doch diese Erkenntnis musste er seiner Mutter nicht gerade auf die Nase binden.
„Natürlich tue ich das“, erwiderte er stattdessen. „Ich wünsch‘ mir einfach nur ‘nen Abschluss für die ganze Geschichte. Ist das so schwer zu verstehen?“
Seine Mutter strich mit ihren Daumen über seine Oberarme. Ben sah wieder zu ihr auf und erkannte, dass sie mit einem Mal sehr traurig wirkte.
„Hey …“, murmelte er deshalb. „Was ist denn los?“
Sie bekam glasige Augen, wandte sich ab und schniefte leise.
„Nichts, nichts!“, tat sie mit übertriebener Geste ab und klemmte sich eine Hand unter die Nase. Ben konnte sehen, dass sie weinte. Er hatte seine Mutter bisher nur selten weinen sehen. Nur ein- oder zweimal, als sie sich mit seinem Vater gestritten hatte. Und das eine Mal, als er im Krankenhaus wieder zu Bewusstsein gekommen war. Aber das war schon lange her.
„Wieso weinst du denn?“, fragte er.
„Ach …“, hauchte sie in einem Atemzug. Ihre Stimme zitterte. „Es ist nur … Ich hätte mir einfach gewünscht, dass wir die wenige Zeit, die uns noch bis zu deinem Flug nach New York bleibt, mehr miteinander nutzen.“
Ben sah sie an. Nachdenklich presste er seine Lippen zusammen. Jetzt wusste er, worum es hier ging. Es ging nicht einzig und allein um die Fahrt nach Hamburg, sondern vor allem darum, bald für fast ein Jahr von zu Hause fort zu sein. Zwar war er schon seit vielen Jahren flügge, doch seine Mutter schien diese Tatsache erst jetzt intensiv zu verinnerlichen. Sie hing sehr an ihm. Er war ihr einziges Kind. All die Liebe, Aufmerksamkeit und Geborgenheit, die die meisten Mütter auf mehrere Kinder verteilten, hatte sie nur ihm gegeben. Seine baldige Abreise in die USA schien ihr deshalb besonders schwer zu fallen. Offenbar erkannte sie allmählich, dass Ben nicht nur flügge, sondern auch erwachsen war; dass er sein eigenes Leben hatte und sie das letzte bisschen mütterliche Kontrolle über ihn verlor.
„Mensch, Mum …“, versuchte Ben sie zu beruhigen und trat auf sie zu. Er blieb vor ihr stehen und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Ich bin doch noch ‘ne Weile da. Ich flieg‘ erst Anfang August und wir haben gerade mal Mitte Juli.“
„Gerade mal?“, hakte seine Mutter nach. Dabei wirkte sie kurz wie ein kleines Kind, das die Welt nicht verstand. „Das sind zwei Wochen, von denen du die meiste Zeit in Hamburg sein wirst.“
„Ich weiß doch nicht mal, wie lange ich dort bleibe!“, verteidigte sich Ben. „Vielleicht wirft Alex mich auch hochkantig raus und ich steh‘ schon morgen wieder vor eurer Tür.“
Seine Mutter sah ihn an. Sie hatte sich wieder beruhigt, doch auf ihren Augen lag noch immer ein feuchter Schleier.
„Du hast ja recht“, gab sie dann zu. „Das sind wohl die Hormone oder so.“
Ben lachte leise. „Ja, wahrscheinlich.“
Sie standen noch eine Weile da, blickten sich in die
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