Sommermond
großer Mühe hatte ruhen lassen. Sie lösten ein Gefühlschaos in ihm aus, das ihn überforderte. Am liebsten hätte er sich heulend nach vorn geschmissen und laut ausgerufen, dass er all das wusste, was Jo ihm sagte, und er Alex liebte und ausnahmslos alles dafür tun würde, um mit ihm zusammen sein zu können. Doch letztendlich blieb diese Szene nur ein Teil seiner Gedanken, seinem Wunschdenken. Die Realität sah anders aus als die verträumte Liebeswelt aus Büchern, in denen alles außer der Liebe klein und unwichtig erschien. Im wahren Leben hatte man Verantwortung zu tragen, Verpflichtungen nachzukommen und den Alltag zu bewältigen. Da war die Liebe etwas, das nebenher laufen musste und das nur funktionierte, wenn man sich ausreichend Zeit dafür nahm und auf andere Dinge verzichtete. Doch er hatte genug verzichtet. Ihm stand ein Auslandsaufenthalt bevor – der erste Schritt in seine neue Zukunft.
„Ich bin nie für ihn da gewesen“, fuhr Jo fort. „Als sein bester Freund starb, war er von einem auf den anderen Tag allein. Ja, er ist auf die schiefe Bahn geraten, aber er ist immer wieder aufgestanden.“
„Das gibt ihm noch lange keinen Grund, die wenigen Menschen, denen er etwas bedeutet, wie Dreck zu behandeln“, erwiderte Ben. „Er hat sich damals nicht mal von mir verabschiedet, sich nicht mal gemeldet.“
„Findest du das nicht etwas seltsam?“, fragte Jo.
Ben sah fragend zu ihm auf.
„Na ja“, fuhr Jo fort, „auch ich musste mich seit der Sache am Pinnasberg mit vielerlei Problemen auseinandersetzen. Dabei habe ich viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Das war längst überfällig.“
Ben hörte aufmerksam zu. Er wollte Jo nicht unterbrechen.
„Und ich bin zu dem Schluss gekommen“, sagte Jo, „dass Alex in irgendetwas geraten ist, das er tut, um dich … vielleicht auch mich … zu schützen.“
„Hast du ihn mal darauf angesprochen?“, fragte Ben.
„Nein.“ Jo schüttelte den Kopf. „Es ist ja lediglich eine Vermutung.“
„Und wie kommst du auf die?“, fragte Ben.
„Weil das alles nicht aus den Fugen geraten ist, als er wieder bedroht worden ist. Es geriet erst aus den Fugen, als ich die Kripo eingeschaltet habe“, erklärte Jo. „Erinnerst du dich?“
Ben nickte. Nebenbei suchte er die Kurzfilme in seinem Kopf nach jener Szene ab, in der er mit Alex auseinandergegangen war. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie aufgebracht der Blonde gewesen war. Aufgebracht und panisch.
„Und dann war er plötzlich weg“, erzählte Jo. „Erst wollte ich die Polizei einschalten, aber stattdessen wartete ich ab. Alex ist erwachsen, und es war nicht das erste Mal, dass er nicht nach Hause kam.“
„Das war zu dem Zeitpunkt, als ich gefahren bin, richtig?“, fragte Ben.
Jo nickte. „Als er nach zwei oder drei Tagen … ich weiß nicht mehr genau … wieder nach Hause kam, war er wie ausgewechselt. Er trug merkwürdige Kleidung, hatte Verletzungen und kurze Haare.“
„Ich erinnere mich“, erwiderte Ben. „Du hattest mich damals angerufen.“
„Ich habe das Ganze einfach hingenommen“, sagte Jo. „Unfassbar, oder?“ Er stockte kurz und senkte den Blick. „Ich dachte, er hätte sich wieder irgendwo herumgetrieben und Mist gebaut. Ich kam ja nicht an ihn heran.“
Ben starrte Jo an. Sein Herzschlag beschleunigte sich, als er ahnte, was Jo ihm zu sagen versuchte.
„Und was denkst du jetzt ?“, hakte er ungeduldig nach.
Jo schwieg einen Moment. Er sah verletzt aus, schien seine Gefühle aber überspielen zu wollen. Er stöhnte erschöpft, bevor er wieder aufblickte.
„Jetzt denke ich, dass die es waren“, sagte er dann.
Ben rutschte das Wasserglas aus der Hand und landete auf seinem Schoß. Kühles Nass sog sich in seine Hose. Hektisch sprang er auf. Seine Hose klebte zwischen seinen Beinen.
„Mist!“, fluchte er, wischte das Glas grob ab und stellte es vor sich auf den Tisch.
Er warf Jo einen entschuldigenden Blick zu.
„Du solltest dich besser umziehen“, sagte dieser.
Ben nickte abwesend. Jos Vermutung hing noch in seinem Verstand und ließ ihn nicht mehr klar denken. Was, wenn Jo recht hatte? Was, wenn Alex tatsächlich mit neuen Problemen kämpfte? Das passte nicht zusammen. Als er Alex vorhin auf der Einfahrt gesehen hatte, hatte der Blonde getanzt und gesungen. Das tat man nicht, wenn man Probleme hatte. Auch nicht, wenn man diese Probleme in Alkohol zu ertränken versuchte. Probleme waren wie tote Fische und tauchten immer wieder auf.
Ben
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