Sommernachts-Grauen
ab dem Hauptbahnhof öffnete er den Koffer und entnahm ihm die Zeitung, hinter der er sich augenblicklich geradezu verschanzte. Ich schätzte , es wird an der zunehmenden Fülle im Wagon gelegen haben. Wahrscheinlich wollte er ebenso wenig sehen, wer sich ein anderes Transportmittel nicht leisten konnte.
An der Mönckebergstraße stieg eine Frau zu, von der ich annahm, dass sie in einem der Kaufhäuser arbeiten musste. Sie war der klassische Stereotyp einer Verkäuferin. Ihren Kopf schmückte eine furchtbare Dauerwelle, deren Locken sich viel zu klein um ihren dicken Hals legten, um den sie sich ein schmuckloses Tuch gelegt hatte, das allerdings geradezu keck mit einer Spange zusammengehalten wurde.
Die graue Jersey-Hose hatte eine tiefe Bügelfalte und ihre Füße steckten in abgetragenen, dunkelblauen Schuhen, die sie nie wechselte, egal was für Wetter war. Ihr Lächeln wirkte wie eingemeißelt. Keine Regung war in ihren Augen zu erkennen. Erst wenn sich die Türen schlossen und die Bahn ihren Weg in Richtung Rathaus weiter fortsetzte, ließ sie ihre Maskenhaftigkeit fallen.
Die Gesichtszüge entspannten sich und sie wurde zu einer anderen Frau, die nicht weniger unsympathisch auf mich wirkte. Jetzt sah sie beinahe böse aus, so tief sanken ihre Mundwinkel, als ob der gesamte Tag von ihrer Seele abfallen wollte. Ein paar Mal hatte ich sie beim Verlassen der Bahn angelächelt, aber nie eine Reaktion erhalten. Vollkommen emotionslos sah sie geradezu durch mich hindurch.
Bei meiner Haltestelle stieg grundsätzlich ein Typ mit mir aus, den ich ebenfalls vom Sehen kannte. Wir lächelten uns an, wenn ich die Bahn betrat, in der er bereits in der immer gleichen Ecke stand. Auf dem Bahnsteig am Rödingsmarkt nickte er mir freundlich zu, bevor er sich umdrehte und den Bahnhof auf der anderen Seite verließ.
Er sah nett aus, war aber alles andere als der Typ Mann, für den ich mich interessiert hätte. Sofort fiel mir seine im Verhältnis zum restlichen Körper riesige Nase auf. Von Weitem wirkte er eher klein, was von seinem Kleidungsstil unterstrichen wurde. Wobei ich es eigentlich nicht Stil nennen würde. Es sah eher so aus, als hätte er seinem großen Bruder die Klamotten geklaut.
Viel zu groß hingen sie an ihm herunter, was ihn noch dünner auf mich wirken ließ. Seine rotblonden Haare standen ihm vom Kop f, als hätte er wochenlang darauf geschlafen. Ich glaubte allerdings nicht, dass er sich Mühe mit der Frisur machte, viel eher war anzunehmen, dass er tatsächlich so aus dem Bett gestiegen war.
Eines Abends im Winter, es war lausig kalt, der Wind pfiff über den Bahnsteig, hob ich meine Hand zum Abschied und winkte ihm, als er mich wie immer anlächelte. Sofort dachte ich, was für eine blöde Idee, drehte mich schnell um und ging hinunter zur Straße, dabei den Walkman in meiner Tasche verstauend, denn ab jetzt wollte ich hören, wer sich mir näherte. Ich erschrak furchtbar, als er am Ausgang zur Ost-West-Straße stand. Wie war er nur so schnell über die befahrene, sechsspurige Straße gekommen?
„Hallo“, schrie ich ihn beinah an.
„Hi, sollten wir uns nicht langsam mal kennenlernen?“
„Sollten wir?“
„Ja, warum nicht? Seit wie viel Monaten sehen wir uns nun schon beinah jeden Tag?“
„Keine Ahnung.“
„Ich bin Reiner.“
„Hallo, mein Name ist Ella.“
„Was ist denn das für ein komischer Name?“
„Das ist nicht komisch. Es ist eine Abkürzung.“
„Die wofür steht?“
„Erstens glaube ich, dass wir uns noch nicht lange genug kennen, dass es dich was angehen würde und zweitens ist es tierisch kalt und ich würde jetzt echt gern nach Hause gehen.“
„Ja, stimmt, es ist echt saukalt. Willst du mich mal besuchen?“
„Wieso sollte ich?“
„Wir sind doch quasi Nachbarn.“
„Ach, sind wir das? Woher willst du wissen, wo ich wohne.“
„Weiß ich nicht, aber da du immer am Rödingsmarkt aussteigst dachte ich, du würdest hier in der Nähe wohnen. Ich wohne übrigens gleich um die Ecke, in der Admiralitätsstraße . Komm doch später mal vorbei und bring was zum Essen mit.“
„Mal sehen, ich muss für morgen noch was vorbereiten.“
„Kannst auch gern später kommen, das macht mir nix, ich geh eh nie früh ins Bett. Ich bin nachts immer besonders kreativ. Ich studiere an der ‚HfbK‘ Kunst und Malerei.“
„Ah a, na denn. Ich geh jetzt nachhause, mir ist kalt.“
„Ich seh dich dann später.“
So schnell, wie er über die Straße gekommen war,
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