Sommernachts-Grauen
beobachten. Jedenfalls schaute er sie direkt an. Anfänglich sah sie schnell weg oder drehte ihren Kopf in eine andere Richtung.
Sie mochte teilweise nicht einmal mehr den Balkon betreten und wäre froh gewesen, wenn Claus sie öfter mit seiner Anwesenheit genervt hätte. Der Nachbar würde annehmen, dass sie einen Freund hatte und eventuell damit aufhören, sie zu beobachten. Inzwischen entschied sie, dass es ihr egal war. Sollte er doch spannern. Sie hatte schließlich nichts zu verbergen.
Gerade als sie ihr Bier geleert hatte, klingelte es an der Tür. Ella schaute auf die Uhr an der Küchenwand. Es war kurz nach halb acht. Auf dem Weg zur Tür schaltete sie das Radio ein. Endlich würde anständige Musik gespielt werden. Lediglich zwei Stunden am Abend konnte man, ohne Schaden zu nehmen, das Radioprogramm ertragen.
„Hast du die Zeitung gelesen?“, fragte Susi, noch bevor sie Ella begrüßte.
Ihre beste Freundin betrat die Wohnung, küsste Ella auf die Wange und ging schnurstracks in die Küche. Sie öffnete den Kühlschrank und beugte sich soweit hinein, als ob sie sich in ihm verkriechen wollte, was bei den Temperaturen sicher eine gute Idee gewesen wäre.
Die knallenge, schwarz-gelb gestreifte Jeans spannte über ihrem kleinen Hintern. Ella besah sich ihre Freundin und konnte nicht begreifen, wie man bei der Hitze eine derart enge Hose tragen konnte, die bis zu den Knöcheln an ihr zu kleben schien.
Ihre Füße steckten in spitzen Schuhen ohne Absatz, das Orange der Schuhe leuchtete. Passend dazu trug sie ein weites T-Shirt, dessen Ärmel sie abgeschnitten hatte und das mit einem breiten Gürtel locker an der Hüfte gehalten wurde.
Als Susi in den Kühlschrank griff, um sich ein Bier zu nehmen, konnte Ella deutlich sehen, dass sie keinen BH trug. Ihre üppigen Brüste bewegten sich bei jeder Bewegung und sofort wurde Ella neidisch, da sie selbst, unabhängig davon, dass man nur selten einen BH trug, keinen gebraucht hätte. Susi richtete sich auf, schloss den Kühlschrank und sah Ella an.
Ihre langen dunklen Haare umrahmten ihr mädchenhaftes Gesicht, das passend zu ihrem Outfit geschminkt war. Susi wirkte durch ihre gesamte Statur eher verletzlich und sah zudem einige Jahre jünger aus, obwohl sie im gleichen Alter war wie Ella.
Die beiden kannten sich seit den ersten Tagen ihres Jurastudiums. Schnell hatten sie Freundschaft geschlossen, zumal Susi nicht aus Hamburg stammte und sich absolut nicht auskannte. Gern hätte Ella ihrer Freundin das Zimmer in ihrer Wohnung angeboten, aber Susi hatte Verwandte, die in der Nähe der Uni in einer riesigen Altbauwohnung residierten, und hatte daher keinen Bedarf, sich räumlich zu verändern.
„Dass du das ertragen kannst! Dieses Gewimmer ist ja grauenvoll.“ Susi öffnete die Flasche, während aus den Boxen ‚Gold‘ von Spandau Ballet plärrte. „Was macht denn eigentlich dein Nachbar? Sitzt er schon wieder mit seinem Fernglas am Fenster und versucht, dich endlich mal nackt zu erwischen? Damit scheint er ja heute direkt mal Erfolg zu haben. Wie war denn dein Tag überhaupt? Diese Hitze ist ja unerträglich. Was machen wir denn eigentlich vorher noch? Ich habe bei der Wärme keinen Hunger, aber wir sollten was essen, was meinst du? Und glaubst du, ich werde heute mal in den Genuss kommen, deinen Mitbewohner kennenzulernen? Dem Geruch nach zu urteilen ist er mal dagewesen, oder sitzt er bei der Hitze in seinem Zimmer? Ich finde das ja komisch, dass der sich nie blicken lässt. Ist der so hässlich, oder was? Boah, endlich spielen die mal was Anständiges.“
Susi hatte inzwischen den Balkon betreten. Nur spärlich konnte man aus dem Radio Ice House hören.
„Mach doch mal lauter“, schrie Susi in die Küche, als Ella sich ein weiteres Bier holte.
Ella liebte dieses Lied. Augenblicklich hob es ihre Laune. Es war Sommer, ein lauer Wind wehte durch die Wohnung, der von ‚Hey Little Girl‘ getragen wurde. Für einen kurzen Moment war Susi still und sie lauschten beide der Musik, die plötzlich von den Verkehrsnachrichten unterbrochen wurde.
„Ich kann dir gar nicht sagen, wie ich das hasse“, sagte Susi.
Auch Ella konnte diese abrupten Unterbrechungen nicht ausstehen, die zudem unerträglich laut im Gegensatz zu der gespielten Musik waren. Aber in diesen zwei Stunden eine Kassette einzulegen schien ihr nicht sinnvoll, denn man wusste schließlich nie, was für Musik gespielt wurde und eventuell verpasste man gerade dann ein richtig gutes und
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