Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
persönlich, und sie waren sich in einem Maße fremd, dass ihre Beichte Unbehaglichkeit auslöste. In der Zeit, als Sita und ich zusammen waren, hatten sie und Sam sich vermutlich nicht öfter als ein Dutzend Mal gesehen; sie kannten sich hauptsächlich durch mich, und ich bin ein schlechter Vermittler für Verständigung. Ich kannte nicht einmal die Hälfte von Sitas Geschichte, ahnte nie, wie tief sie verletzt war. Das Fenster rahmte sie ein, das Gegenlicht des Nachmittags tauchte ihre Züge ins Dunkel, und der Sonnenschein, der durch die silbrigen Blätter drang, verlieh ihr so etwas wie Glanz. Sam saß still auf dem Bett und betrachtete eingehend seine Schnürsenkel. Angesichts der Schwerfälligkeit ihres Gesprächs wünschte ich mir, er könnte wie zuvor den Narren spielen: ihr ein Tattoo auf das Augenlid malen oder sie mit irgendeinem Kunststückchen, das in den Taschen seines Bademantels versteckt war, aufmuntern. Doch Sam hatte keinen Zaubertrick, mit dem er sie hätte erheitern können. Und ich konnte wenig Trost zu ihrer Vergangenheit beisteuern. Zu ihrem Leben vor unserem Leben. Der Kater öffnete ein Auge und musterte mich mit Geringschätzung. »Ein bisschen Neugier hätte dich nicht umgebracht«, sagte er. »Um Himmels willen, Kumpel, das hättest du alles schon früher wissen sollen.«
Als der August zu Ende ging und es klar wurde, dass ich nicht in der Verfassung war, wieder aufs College zu gehen, machten sich meine Eltern immer größere Sorgen. Meine Mutter bestand weiterhin auf einem Therapeuten, und ich hörte ihre Argumente durch meinen Dunstschleier gefiltert. Auch meine Geschwister machten sich Sorgen, aber nicht nur um mich, sondern ebenso um unsere Mutter, die immer mehr die Orientierung verlor, weil sie nicht mehr wusste, was sie mit mir machen sollte. Eines Spätsommerabends, in der nächtlichen Luft schwebte bereits Herbstduft, klopfte mein Vater an meine Tür und fragte, ob er hereinkommen dürfe.
Eine kalte Brise wehte vom See her, und ich lag schon unter der Decke, obwohl die Sonne noch nicht untergegangen war. Mit einer Handbewegung bat er mich, ihm auf der Bettkante etwas Platz zu machen, damit er sich hinsetzen könne. Er hat diese Förmlichkeit der Alten Welt, eine steife Höflichkeit, die ihn bei Patienten und Kollegen beliebt machte, aber als voll amerikanisierte Tochter fand ich sein Benehmen befremdlich. Entspann dich, Daddy. Er war nicht wie die amerikanischen Väter, die locker mit ihren Kindern umgehen, und als er sich neben mich setzte, hätte ich alles dafür gegeben, dass er mich einfach nur umarmt und gesagt hätte, alles werde wieder gut. Aber so ist er nicht gestrickt, und dennoch war ich dankbar für seine Geste. Es war Jahre her, dass wir so wie nun allein waren, damals war ich noch ein kleines Mädchen und er ein junger Mann gewesen. Ich stopfte mir die Kissen in den Rücken und setzte mich auf, um ihn zu fragen: »Erinnerst du dich noch an die Zeit, als du immer zu mir kamst, um mir die alten Geschichten zu erzählen?« Er suchte nach Worten und schien in einem Dickicht verloren, unsicher, wie und womit er sein Kind retten könne, das ihm gegenübersaß.
»Rama«, sagte er, »hatte von den Leuten seines Königreichs Gerüchte gehört, was Sita zugestoßen sei, als sie von Ravana entführt worden war. Der Dämon hatte darauf gedrängt, dass sie seine Braut würde, und obwohl Sita ihn zurückwies, bezweifelten die Leute, dass sie während der langen Gefangenschaft ihre Keuschheit bewahrt habe. ›Sie wird ihn schon erhört haben.‹ Selbst Rama stellte ihre Ehre infrage. Deshalb bat Sita Ramas Bruder, einen großen Scheiterhaufen zu errichten und ihn anzuzünden. Und sie erklärte Rama, dass sie zum Beweis ihrer Reinheit durch das Feuer gehe. Solle sie ihm treu gewesen sein, könne sie unbeschadet hindurchgehen. Wenn nicht, komme sie in den Flammen um. Nun denkst du vielleicht, es reiche schon, diese Feuerprobe nur vorzuschlagen, doch Sita bestand darauf, das Feuer zu durchschreiten, und natürlich blieb sie unversehrt und so rein, wie sie immer gewesen war.«
Das war alles, was er am ersten Abend erzählte. Im Laufe der nächsten Wochen, als der Herbst auf den Sommer folgte, kam mein Vater hin und wieder und erzählte mir mehr aus dem Ramayana, all die Episoden, die er ausgelassen hatte, als ich noch klein war. Sie führten eine aufreibende Ehe, Rama und Sita, die auf Zweifeln gründete, währenddessen sie sich bemühten, das Rechte zu tun und gemäß dem Dharma
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