Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
seiner Poetik zulassen, aber nur im metaphorischen Sinn, etwa bei einem derart von Glück erfüllten Haus, dass die Fenster als singend bezeichnet werden könnten. Er spricht vom Archetypus des »glücklichen Hauses«, das kleine Kinder abbilden, wenn man sie bittet, die Buntstifte zur Hand zu nehmen und ihre Vorstellung eines Zuhauses zu malen – ein Viereck mit einem spitzen Dach, zwei Fenstern und einer Tür, was einem Gesicht nahekommt, und rings um das Haus einen Baum und Blumen und am oberen Rand einen blauen Strich, der den Himmel andeutet, und die Sonne, die, meistens lächelnd, von einer festen Position in der Ecke aus strahlt. Auch wenn es keine guten Gründe dafür gibt, die Existenz eines Pendants zu dieser idealisierten Vorstellung anzuzweifeln, etwa ein singendes Haus als Ort der Familie, der so erfüllt ist von Freude, dass er Tag und Nacht Melodien summt, so habe ich doch einen solchen Ort noch nie gesehen oder auch nur von ihm gehört. In meiner eigenen Kindheit gab es, wie mein Vater bezeugen könnte – wenn er denn mein Vater ist –, solche Lieder nicht, es sei denn, man zählt die schmutzigen Liedchen dazu, die er manchmal spätnachts vor sich hin sang, wenn er sternhagelvoll nach Hause kam.
»Du hast mich missverstanden, oder vielleicht habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt. Es war wie das Präludium eines fantastischen Stücks oder Films, und das Haus selbst war das Theater. Ich stand auf dem Rasen, bestaunte das plötzliche seltsame Aufscheinen der Fahrräder und beobachtete das vom Chrom reflektierte Licht, als ich jemanden aus den geöffneten Fenster singen hörte. ›Vissi d’arte‹ aus Tosca. «
»Verdi?«, riet der alte Mann.
»Nein. Ein häufiger Fehler. Ich glaube, es ist Puccini.«
»Wenn ihr beiden euch hinter dem Schild toter, männlicher, weißer, eurozentrischer Kulturanspielungen verstecken wollt, werde ich meinen Schädelspalter nehmen und gehen.«
»Verzeihung. Der Komponist ist nicht so wichtig wie das Lied, und das Lied selbst ist nicht so bedeutend wie der Gesang. Und der bekommt seine wahre Bedeutung allein durch den Zuhörer.«
Der alte Mann freute sich über meinen klugen Schachzug, denn er nickte eindringlich und wurde ganz lebendig. »Ein Wort ist erst dann ein Wort, wenn es gehört wird.«
»Ein schmelzender Sopran sang die Melodie und zog mich Ton für Ton in seinen Bann.« Meine beiden Zuhörer schienen von meiner Geschichte fasziniert zu sein, denn ihre Münder standen offen, und ihre Augen waren groß und voller Erwartung. Eine kühle Brise oder eher ein Luftstrom von hinten kitzelte die kurzen Haare meines Nackens, und das Narbengewebe der ehemaligen Wunde zog sich zusammen. War in einem anderen Zimmer ein Fenster geöffnet worden, was zu der plötzlichen Zugluft geführt hatte?
»Vertraust du mir?«, fragt der alte Mann.
Eine absurde Frage. Selbst als er noch lebte, hatte mein Vater kein Vertrauen verdient. Ihm trauen? Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich überhaupt an seine Existenz glauben sollte oder daran, dass er tatsächlich mein Vater war und nicht eine Ausgeburt meiner Fantasie. Eine überlebensgroße Bühnenfigur. Wenn ich es recht überlegte, hatte mein Vater braune Augen, aber die meines Inquisitors waren blau.
»Komm schon, Kleiner, keine Zeit vertrödeln. Wenn ich dir etwas sage, gehorchst du dann ohne Vorbehalt, ohne Fragen?«
»Wenn du mir etwas sagst?«
»Dir einen Befehl gebe, Junge. Wenn ich dir einen Befehl gebe, dann tu sofort, was ich sage, denn dein Leben könnte davon abhängen.«
Dolly, neben ihm auf dem Rand, nickte.
»Ja, ich vertraue dir.«
»Guter Junge. Also, eins, zwei, drei … duck dich!«
Ich kauerte mich sofort hin, als über meinem Kopf ein Projektil durch die Luft pfiff und in die gegenüberliegende Wand einschlug. Eine unregelmäßige Korona aus Rissen erstrahlte rings um den Einschuss in den Duschkacheln, in der Mitte steckte tief der spitze Widerhaken einer kleinen Harpune. Aus der Richtung, aus der die Waffe abgefeuert worden war, ergoss sich eine Fontäne wüstester Beschimpfungen. Eine junge Frau, kaum älter als ein Mädchen, schimpfte und fluchte wie ein Seemann und stampfte dabei wütend mit den Füßen auf. »Du Hund eines Hurensohns, du Scheißkerl, du Widerling! Zur Hölle, ich habe danebengeschossen!«
Wutbebend stand sie in der Tür, ballte die Hände zu Fäusten und schüttelte den Kopf, dass ihre Dreadlocks wild umherflogen wie der Wischmob eines Hausmeisters. Ihr angestauter Zorn
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