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Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)

Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)

Titel: Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Keith Donohue
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vermutlich war mein Kurzzeitgedächtnis durch die Gehirnerschütterung in Mitleidenschaft gezogen. Da jemand, den ich liebe, vielleicht in Gefahr war, nahm ich all meinen Mut zusammen und ging zur Treppe, die wieder im Dunkeln lag, obwohl der Schalter oben in der Mittelposition stand.
    Nun mit der Dunkelheit vertrauter, nahm ich jeweils zwei Stufen auf einmal und war im Nu oben. Alle Türen, die von diesem Flur abgingen, waren geschlossen; hinter jeder herrschte Totenstille. Eine weitere Uhr fiel mir ein, und ich ging in mein Arbeitszimmer, setzte mich an den Schreibtisch und drückte auf den Einschaltknopf des Computers. Das aufscheinende Licht und die Melodie, die der Rechner trompetete, als er zum Leben erwachte, erschreckten mich beinahe zu Tode. Einen Augenblick überlegte ich, ob das Geräusch jemanden im Haus aufgeweckt habe. Der blaue Bildschirm verschwand, das Firmenlogo erschien, und die Icons erblühten wie Blumen. Die Zeit unten in der Ecke stand still, und wenn ich auch nicht ergründen konnte, warum es immer noch 4.52 Uhr war, freute es mich doch, dass alle Uhren im Hause synchron liefen.
    Durch die Lüftungsschlitze gefiltertes Lachen drang aus dem Badezimmer, ein entkörperlichtes Kichern, das wie eine glückliche Erinnerung klang. Die Quelle des Lachens entdeckte ich, als ich die Badezimmertür öffnete. Dolly saß auf dem Rand der Badewanne, und, hinter ihr in der Wanne stehend, strich der alte Mann mit einer Bürste durch ihr langes schwarzes Haar. Als sie mich sahen, zeigte sich zwar einen Moment lang eine milde Überraschung auf ihren Gesichtern, doch dann fuhren sie ohne auch nur einen Anflug von Scham fort. Jeder Bürstenstrich schien ihm ein sinnliches Vergnügen zu bereiten, und sie entspannte sich unter seinen zarten Aufmerksamkeiten. Eifersucht drückte mir auf den Magen.
    »Ist etwas passiert?«, fragte ich. »Da war eben so ein Krach, als wäre ein Stuhl umgefallen.«
    »Ein Stuhl wäre eine vorsorgliche Ergänzung für dieses Bad«, sagte er und fuhr jetzt zärtlich mit den Fingern über ihr Haar. »Wo warst du denn die ganze Zeit? Dolly hat mich mit der erotischen Version der ›Frau, die einen Oktopus heiratete‹ und anderen Erzählungen ihrer Tlingitvettern ergötzt.« Bei diesen Worten umschlangen seine acht Arme ihren Körper und ließen erst wieder von ihr ab, als er zum Ende seines Satzes kam.
    Sie schlug die Augen auf, und in ihren nachtdunklen Pupillen gingen zwei Monde auf, die über den Himmel wanderten und die Phasen vom zunehmenden zum Vollmond zum abnehmenden bis zu gar keinem Mond durchliefen. »Alte Geschichten«, sagte sie, »sind am besten für die Liebe und für die Wahrheit.«
    »Ich bin mir nicht sicher, was ich von deiner Geschichte halten soll«, sagte ich.
    Der Alte stieg aus der Wanne und schob sich zwischen das Mädchen und mich, dann legte er mir väterlich die Hand auf die Schulter, um mich einige Schritte beiseitezuziehen. Sie stimmte einen Gesang in ihrer Sprache an, der durch seinen sich wiederholenden Rhythmus und seine Melodie einen gewissen hypnotischen Charme besaß. Währenddessen flüsterte er in vertraulichem Ton: »Das Thema persönlicher Tragödien würde ich nicht ansprechen, Kleiner. Sie brütet seit ewigen Zeiten über einen Fall gewaltiger Ungerechtigkeit, und ihr Groll ist beträchtlich.«
    Leise entgegnete ich: »Aber was hat das mit mir zu tun?«
    »Am besten wechseln wir das Thema.« Als er mir zuzwinkerte, blitzte auf seinem geschlossenen Lid ein drittes Auge auf. Kein funktionierender Augapfel, sondern eher eine plumpe Zeichnung mit dem dicken Strich eines Augenbrauenstiftes oder etwas Ähnlichem aufgetragen. »Folge mir, wenn ich bitten darf.« Er führte mich zurück zur Toilette, und wir nahmen wieder die anfänglichen Positionen unseres Treffens ein. Der einzige Unterschied bestand in Dollys Anwesenheit auf dem Badewannenrand zur Linken meines Vaters. Sie beendete ihren Gesang, und wir klatschten höflich Beifall. »Du hast mir«, sagte er mit lauter, gekünstelter Stimme, »von den Fahrradmädchen erzählt.«
    Ich hatte einen benebelten Gesichtsausdruck, eine Miene, die ich des Öfteren auf offiziellen Fotos von mir gesehen habe, wie etwa auf denen für den Führerschein oder für einen Pass, diese Art von Fotos, die immer im schlechtesten Moment geknipst werden.
    »Die Damen und die Fahrräder«, wiederholte der alte Mann. Die Furchen auf seiner Stirn, die Jahrzehnte voller Sorgen und Enttäuschungen hineingeätzt hatten, wurden zu

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