Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
zwei, drei Stellen in der Brust und den Schultern, Phantomschmerzen emphatischer Natur. Durch den Verlauf ihrer Geschichte fühlte ich mich auf merkwürdige Weise zu X’oots, dem Bärenmenschen, und seinem Opfermut hingezogen, über den Hund Chewing Ribs war ich absolut erschüttert. Irgendwo im Haus übte sich mein sanfter Kater in seiner gewohnten Zurückhaltung. Hinter den Türen des Schränkchens verbargen sich Medikamente, die Hoffnung und Erleichterung versprachen – ein Aspirin, vielleicht auch ein Ibuprofen. Während ich noch überlegte, was ich nehmen sollte, kam mir plötzlich in den Sinn, dass bereits etwa eine Stunde vergangen sein musste, seit Dolly das Bad betreten und mit ihrer Geschichte begonnen hatte. Eine Schlaftablette könnte angebracht sein, aber so kurz bevor ich eigentlich aufstehen sollte, wollte ich keine nehmen.
»Entschuldigt mich«, sagte ich zu den beiden und ging hinaus, um nach der genauen Uhrzeit zu sehen. Wortlos entließen sie mich in die Dunkelheit jenseits der Badezimmertür. Die Deckenlampe, die ich sicher angemacht hatte, als ich die Whiskeyflasche holte, war ausgeknipst worden. Mit dem Schalter herumzuspielen, nutzte nichts, der Flur blieb dunkel wie ein Grab. Aus dem Badezimmer drangen Gesprächsfetzen. »… im 16. Jahrhundert«, sagte sie. Er fragte: »Was hast du denn die letzten fünfhundert Jahre gemacht?« Erstaunt über die Frage des alten Mannes, schaute ich zurück und sah ihn ganz nah vor ihr stehen, fast presste er sie an den Waschtisch, sein linker Arm war ausgestreckt, die Handfläche ruhte auf dem Spiegel, und Dolly lehnte sich zurück, mit straffen Schultern und einem scheuen Lächeln auf den Lippen. Verwirrt durch ihr Flirten, versuchte ich zu ergründen, wie und warum ich allein im Dunkeln war. Wieder verweigerte der Lichtschalter seinen Dienst, aber selbst als Blinder konnte ich die Treppe meines Hauses bewältigen. Ich schloss die Augen, hielt mich am Geländer fest und hob die Zehen über den Abgrund.
Ohne Schwierigkeiten fand mein linker Fuß die erste Stufe, mein rechter die zweite. Blieben noch dreizehn. Ich erinnerte mich an die Tausende von Malen, die ich diese Treppen hinauf- und hinuntergegangen war. Das Haus war eine große Erleichterung für mich und ein Schutzschild gegen diese Aura des Untergangs, die mich seit meinem Sturz bedrohte. In der Poetik des Raumes schrieb der Philosoph Gaston Bachelard: »Das erlebte Haus ist keine leblose Schachtel. Der bewohnte Raum transzendiert den geometrischen Raum.« Solange ich in meinem eigenen Haus bin, hatte ich nichts zu befürchten, denn es schien mir, dass man dem Haus vertrauen konnte, auch wenn alles andere ringsumher nur Geheimnisse und Fragen barg. Ich liebe die Poetik , und wenn in dem Architekturbüro, in dem ich arbeite, außer mir niemand war, las ich das Buch heimlich an meinem Schreibtisch. Es war mir in einem Augenblick besonderer Verzweiflung über meine Zukunft als Architekt in die Hände gefallen. Ich kann mich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, wer es mir gab. Ein wichtiger Mensch, der durch das Loch in meinem Kopf entflohen ist.
Trotz tiefster Dunkelheit im Treppenhaus schaffte ich es, ohne zu stolpern und mich umzubringen, bis zur untersten Stufe. Der Schalter unten war zwischen An und Aus gestellt, ich behob den Missstand und erleuchtete alles. Mit geweiteten Pupillen taumelte ich in die Küche. Ich gab auf dem Timer der im Herd eingebauten Digitaluhr eine Minute ein und wartete. Derweil liefen die Zahlen nicht rückwärts, und der Piepser ertönte nach der richtigen Zeitspanne. In der Überzeugung, dass irgendeine elektromagnetische Katastrophe für den Stromausfall gesorgt hatte, ging ich zum Fenster, doch ich sah nur schwärzeste Nacht, nicht die leiseste Andeutung einer Morgendämmerung, die längst hätte aufziehen sollen. Ich kratzte mich am Kopf und täte es wohl noch immer, wäre aus dem Raum über mir nicht ein plötzlicher Schlag zu hören gewesen, als verlöre ein Stuhl ein Bein oder als zöge eine Tlingitfrau meinem Vater eins über den Schädel.
Der Drang zu fliehen zerrte am Saum meines Bademantels, doch ich ignorierte ihn, wie man ein nervendes Kind ignoriert. Schließlich war dies mein Haus, und ich war entschlossen herauszufinden, was hier geschah. Zudem hatte ich das undeutliche Gefühl, dass sich noch jemand im Haus befand, jemand, der mir nahestand, den ich vor Leid bewahren sollte. Im Moment konnte ich mich nicht recht an ihren Namen erinnern, doch
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