Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
erreichen und mit ins Meer hinausziehen.
Chard gähnte wie ein großer Blasebalg und holte dann tief Luft. »Schluss für heute mit dem Gerede über Könige und Schurken, denn so etwas legt sich schwer auf die Seele, und Hoffnung ist ermüdender als ein ganzes Tagwerk. Ich verabschiede mich mit meiner Flasche und wünsche dir eine gute Nacht bis zum Morgen.«
Aus einem Loch im Sand krabbelte ein Krebs und begann mit seinen großen Scheren zu fächeln, seine Augen drehten sich auf den Stielen, erst das eine und dann das andere. Fasziniert von diesem Schauspiel, legte John den Kopf in den Sand, um das Tier genauer zu betrachten. Da der kleine Krebs die gleiche Farbe wie der Sand hatte und im Mondschein nur schwer zu sehen war, streckte sie sich aus, um jede seiner Bewegungen verfolgen zu können. Dabei schlief sie ein, das Brausen des endlosen Meeres wiegte sie in einen weingetränkten Schlummer. Sie konnte nicht sagen, wie lang sie geschlafen hatte, und als sie erwachte, war sie wie aus einem Traum gerissen oder mehr als aus einem Traum, denn das Erste, was sie sah, war Master Ravens, der neben ihr saß, während die Sonne bereits über den Atlantik spitzte. Und das Erste, was sie bemerkte, war, dass jemand ihr die Bluse ausgezogen und die Bänder abgewickelt, dann aber ihre Kleider eilig wieder über sie geworfen hatte. Mit nackter Brust erkannte sie, trotz des Brummens in ihrem Kopf, dass ihr Geheimnis entdeckt worden war.
Ganz sittsam und nur mit einem raschen Seitenblick sprach Ravens zu ihr, kaum dass sie sich rührte. »Es tut mir leid. Aber als du gestern Nacht nicht ins Lager zurückkamst, habe ich um dein Leben und deine Gesundheit gefürchtet und im Wald nach dir gesucht. Und als ich dich hier am Strand in diesem aufgelösten Zustand fand, schüttelte ich dich immer wieder, um dich aus deiner Benommenheit zu wecken. Zuerst hielt ich dich für krank und nicht für betrunken. Du lagst hier in einer Lache, als hätten dich die Wellen angeschwemmt, feucht in deinem eigenen Saft von der heißen Nacht und dem Wein. Als du nicht aufwachen wolltest, hielt ich es für das Beste, dich ein wenig abzukühlen, denn du hattest sicher Fieber oder Schüttelfrost, und als ich dann sah … Wer bist du wirklich, Mädchen, und warum hast du uns deine wahre Natur verheimlicht?«
Jane setzte sich mühsam auf, doch bei jeder Bewegung wurde ihr schwindlig und schlecht. Schließlich gelang es ihr, ihm den Rücken zuzukehren und sich anzuziehen. »Master Ravens, ich war Euch in den vergangenen Monaten ein ergebener Diener. Ich flehe Euch an, mich nicht zu verraten. Bewahrt mein Geheimnis. Es gab keine andere Möglichkeit, nach Virginia zu kommen, als mit einer Anstellung, denn meine Mutter ist nur eine Dienstmagd in einem Haus namens ›Der Mond und die sieben Sterne‹, und mein lieber Vater verließ diese Welt, als ich neun war.«
»Und seit wann gibst du dich schon als Junge aus?«
»Cap’n Newport«, sagte sie, »kam in das Wirtshaus, wo meine Mutter uns in den oberen Zimmern untergebracht hat. Ich hörte ihn dort mit den Matrosen sprechen. Mit einer Hammelkeule in der Hand sagte er, er brauche eine Mannschaft fähiger Leute für eine Expedition nach Virginia, um die Siedler dort aus ihrer Notlage zu retten. Ich fand diese Kniehosen meines älteren Bruders, der schon von zu Hause ausgezogen war, und weil ich so oft den Geschichten der Seeleute gelauscht hatte, gelang es mir, Newport davon zu überzeugen, dass ich einen guten Kabinenjungen abgeben und einen Lotsen oder einen anderen Navigator bestens bedienen könne. Hätte ich Eure Freundlichkeit und Euer gutes Wesen gekannt, Master, hätte ich diese List nie angewandt, doch ich hatte Angst, dass ich entdeckt und den Walen oder Haien vorgeworfen oder in den dunklen Bauch der Venture eingesperrt würde.«
»Närrisches Kind!«
»Ihr werdet mich doch nicht verraten, Master Ravens? Ich flehe Euch an. Ich verspreche, dass ich in Jamestown die Wahrheit aufdecken werde.«
Er schaute sie an, das Licht hinter ihm bildete einen Heiligenschein um seinen Kopf.
»Du bist ein kecker Kobold. Sag mir, kommt jetzt bald dein Bruder nach, um seine Hosen einzufordern?«
Sie lachte und dachte derweil, dass er keiner Seele etwas erzählen würde.
»Ich habe dich gesucht, John, wenn du John bist, und der bist du sicherlich nicht …«
Sie streifte sich den Sand von den Armen und beichtete ihm, ihr Vorname sei Jane.
»Long Jane Long«, gluckste er. »Ich habe dich gesucht, da ich noch
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