Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
heute aufbreche. Das Boot ist fertiggestellt und abgedichtet, und wir segeln mit der Tide los. Hätte ich dich nicht so gesehen, hätte ich dich gebeten, mit uns …«
»Aber ich kann Euch doch begleiten. Es hat sich nichts geändert!«
Henry Ravens packte sie an den Schultern, sodass sie ihm in die Augen sehen musste. »Nein, du kannst nicht mitkommen. Du bist zwar unerschrocken, aber du bist immer noch eine Frau, ja, ein Mädchen. Doch hab keine Angst, ich werde dein Geheimnis für mich behalten, bis wir uns alle in Jamestown wiedersehen. Und nun gib mir einen Kuss, mein Junge«, sagte er, »das bringt Glück.« Und sie küsste ihn auf die Wange – zum ersten und zum letzten Mal.
Am achtundzwanzigsten August, einem Montag, stachen acht Männer zur Begeisterung aller Gestrandeten in einem Boot Richtung Virginia in See. Doch am Mittwochabend kehrte das Boot zurück, sie hatten im Norden und im Südwesten vergeblich eine sichere Passage um die Riffe gesucht. Am ersten Tag im September brachen sie wieder auf; sie wollten dem Kurs folgen, auf dem die Sea Venture in die Bucht gekommen war, und hofften, das offene Meer zu erreichen. »Wenn wir überleben«, versprach Ravens der versammelten Mannschaft, »und dort sicher ankommen, kehre ich beim nächsten Mond mit einer Pinasse aus der Kolonie zurück. Zündet jede Nacht Signalfeuer an, damit unser Schiff sicher zu euch findet.«
Vier Wochen später schürte Jane in dieser ersten Nacht und in vielen folgenden Nächte am höchsten Punkt der Insel das Feuer. Tagsüber suchte sie, sooft sie konnte, den Horizont ab, immer hoffnungsvoll, während des ganzen Oktobers bis zum November und zum Dezembermond. Doch es kam kein Schiff, nur Meer und Luft, so weit das Auge reichte. Was aus Ravens und den sieben Seeleuten geworden war, hat man nie erfahren.
In dieser Zeit des Wartens und Wachens begann die Arbeit an einem weiteren Schiff, obwohl es zu verschiedenen Meutereien unter den Matrosen kam – manche waren ohne Religion und insgeheim unzufrieden –, mit denen sie ihr Unbehagen über die Kolonie in Virginia kundtaten. Sechs Männer machten sich durch ihren Komplott, ein Boot stehlen und allein auf einer nahe gelegenen Insel leben zu wollen, selbst zu Geächteten und Ausgestoßenen. Denn kaum hatten sie ihre Ränke geschmiedet, krähte der Hahn, und sie wurden vom St. Catherine’s Beach verbannt. Nur durch ihre Gnadengesuche, die sie über Mr. Strachey stellten, und dank der Barmherzigkeit von Sir Thomas Gates, dem Gouverneur, wurden sie wieder in die Gemeinschaft aufgenommen. Im Januar heckte ein gewisser Mr. Hopkins mit anderen Männern einen Plan aus, doch er wurde verhaftet und in Handfesseln gelegt. Hätte er nicht inständig gefleht, er habe in London seine Frau und seine kleinen Kinder zurückgelassen, wäre auch er für immer weggeschlossen worden. Zu guter Letzt geriet ein Mann namens Robert Waters mit einem Mr. Edward Samuell über ein schlecht zugeschnittenes Stück Holz in einen Streit, der damit endete, dass Waters Samuell mit einer Schaufel auf den Kopf schlug und ihn tötete. Gates befahl, die beiden Männer, den Mörder und den Ermordeten, zusammenzubinden und von sechs Mann bewachen zu lassen. Doch trotz der schrecklichen Sünde schnitten die Wächter die Seile durch und brachten Waters zu einem Versteck im Wald.
Es war Mr. Chard, der an Jane herantrat und sie bat, Mittelsmann zu sein. »Wir brauchen jemanden, dessen Fehlen nicht auffällt, Kumpel, und dem wir vertrauen können. Nimm dieses Essen und folge dem Pfad bis zu der Lichtung, wo wir zum ersten Mal die Wildschweine gesehen haben. Dort wendest du dich nach Osten und gehst etwa hundert Schritte, dann kommst du an ein schattiges Plätzchen, und dort hinter den Palmen ist eine Höhle, und in dieser Höhle findest du Robert Waters. Los, Junge, und sei geschwind und leise wie ein Hase. Du weißt, Samuell hatte es verdient.«
Zwei Wochen lang huschte Jane jeden Morgen und jeden Abend bei Winterkälte und Wind durch den Wald zu Mr. Waters, der sich in der Höhle versteckte. Da es darin so finster und der Mann nicht mehr als ein Schatten war, fand sie ihn anfangs nicht. Doch er fand sie, schlich sich an sie heran, packte sie und presste ihr die Hand auf den Mund. »Und wer ist das?«, knurrte er sie an und löste die Finger, damit sie antworten konnte.
»Long John Long. Ich bin gekommen, um Euch das Abendbrot zu bringen.«
»Stell es ab, Junge, und setz dich da hin, wo du bist. Rühr dich nicht.«
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