Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
fordernd ausgestreckter Hand bat der alte Mann, sie möge ihm den Ballon aushändigen. Sie stritten kurz in wütendem Französisch, wobei die Worte so rasch an mir vorbeizischten, dass ich nicht ein einziges ausmachen konnte. Nachdem Marie sich nur zögernd geschlagen gegeben hatte, hielt der alte Mann den Ballon hoch, sodass ich ihn genau betrachten konnte. Zusätzlich zu dem karikierten Gesicht waren zwei Stummelärmchen und -beinchen daran. Er knüllte den Ballon zusammen und stopfte ihn in seine Brusttasche. Verärgert gesellte sich Marie zu den drei anderen Frauen, die auf dem Rand der Badewanne hockten wie Zuschauer, die man auf die billigen Tribünenplätze verwiesen hat.
»Auf ein Wort, monsieur , s’il vous plaît ?« Ich führte ihn zur Türschwelle in vermeintliche Privatheit. »Lass dir zuerst einmal danken, dass du mir ein weiteres Mal das Leben gerettet hast. Ohne dich wäre ich womöglich erschlagen, aufgespießt, in Stücke gerissen oder wer weiß was worden.«
Er klopfte mir zweimal auf den Oberarm. »Ich möchte nicht, dass dir irgendetwas zustößt …«
»Das ist sehr anständig von dir.«
»… bevor du nicht die Geschichte von der Vorstellung unserer Freundinnen in deinem Salon fertigerzählt hast. Ich wüsste gerne, wie es zu alledem gekommen ist.«
»Wüsste ich auch gerne, Bruder.«
Hinter seinen Brillengläsern glänzten seine strahlenden Augen vor Feuchtigkeit, die man für aufkommende Tränen hätte halten können. Seine Unterlippe zitterte, doch dann nahm er sich zusammen. Der alte Mistkerl wuchs mir allmählich richtig ans Herz. Er blinzelte den Mädchen zu. »Was haltet ihr von der Letzten?« Sein Daumen wies ruckartig in Maries Richtung. »Hat jedes Quäntchen meiner Aufmerksamkeit eingefordert, damit ich die Worte auf ihrer Haut bis zu Ende lesen konnte, ohne mich ablenken zu lassen.«
»Sie ist sehr schön. Atemberaubend. Und dann dieser Akzent.«
»Aus dem Mund einer Französin klingt sogar eine Einkaufsliste sexy. Liegt bestimmt an all dem Rotwein und den Zigaretten.« In dem kargen Licht war er sogar noch deutlicher erkennbar, lang und dünn wie eine Vogelscheuche, der zurückgestrichene silbergraue Schopf, die Nickelbrille und ein von Falten durchfurchtes Gesicht, Ergebnis von zehntausend Gitanes und zahlreichen Nächten, in denen er eine leere Seite anstarrte. Der berühmte französische Dramatiker.
»Du erinnerst mich an jemanden.«
»An deinen Vater.«
»Nein, ja. Auch an ihn, aber noch an jemand anderen.«
»Ich bin froh, dass es ein anderer ist. Ich war schon in Sorge.«
»Wie heißt der französische Typ, der das Stück Warten auf Godot geschrieben hat?«
Er klopfte die Taschen seines Bademantels ab, zog mit zwei Fingern den krumpeligen Luftballon heraus und betrachtete ihn, als hätte er keinerlei Erinnerungen an diesen Gegenstand. Ein Gedanke kräuselte seine Lippen. »Hast du eine Zigarette?«
»Ich rauche nicht.«
»Dann wäre es jetzt ein eigenartiger Zeitpunkt, damit anzufangen. Dennoch.«
»Es ist ein sehr berühmtes Stück. Über nichts.«
»Über nichts? Alles ist über etwas.«
»Auch dieses?«
»Insbesondere dieses. Selbst das Schweigen hat Bedeutung und kennt zahllose Interpretationen.«
»Ja«, stimmte ich zu, einfach, weil ich umgänglich sein wollte. »Es handelt von zwei Landstreichern, die darauf warten, dass Godot zurückkehrt.«
»Ein französisches Stück? Klingt nach einem Film, den ich einmal mit Buster Keaton gesehen habe, dem Schauspieler mit dem Pokergesicht. Er war in etliche Klemmen geraten und wartete auf die Rückkehr seines Kumpels, damit er die Dinge in Ordnung bringe. Der Name des Mannes war Godot, aber er kehrte nie zurück. Aber vielleicht war es gar nicht Keaton, sondern Laurel und Hardy.«
»Nein, Warten auf Godot ist so eine Art existenzialistische Komödie.«
»Aber Laurel und Hardy würden einen guten Vladimir und Estragon abgeben, meinst du nicht? Zwei Landstreicher. Laurel und Hardy waren immer zwei Landstreicher.«
»Allmählich habe ich das Gefühl, wir beide sind Landstreicher, die auf einen Befehl warten, der uns aus diesem Chaos erlöst.«
»Nein, ich bin sicher, es war Keaton. Dein Dramatiker hat ihn sehr bewundert. Er besetzte Keaton sogar in einem Film ohne Worte. Kein Stummfilm allerdings, es gab einfach nichts zu sagen.«
»Du klingst sogar wie er«, sagte ich.
»Wie dein Franzose? Vielleicht schrieb er nur auf Französisch. Damit er gründlicher nachdenken musste.«
»Genau das ist es«, sagte
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