Sommernachtszauber (German Edition)
Tische und Menschen flanierten auf dem Bürgersteig. Tausend, hunderttausend, Millionen Leben an einem lauen Sommerabend. Sie sah sich um: Es war entschieden zu früh, um nach Hause zu fahren.
Sie wählte Carolines Nummer auf ihrem iPhone. Vielleicht wollte sie doch noch ins
Visite ma Tente
kommen, was immer sie vorher so Dringendes zu tun gehabt hatte. Aber das Telefon klingelte siebenmal, ehe es auf Carolines Mailbox umschaltete.
Mia hinterließ keine Nachricht. Dann ging sie eben allein ins
Visite ma Tente
. Plötzlich musste sie an Ben van Behrens denken. Wenn sie jetzt so aus seiner Wohnung käme, die hier irgendwo sein musste, wäre ihr Glück vollkommen.
Wie Ben wohl als Liebhaber war? Als
Liebster
, korrigierte sie sich unvermittelt. Von ihm, mit ihm, wollte sie mehr als nur Sex, wie heiß auch immer der
nur Sex
sein mochte. Sie war aufgekratzt. Mal sehen, was der Abend noch so brachte. Vielleicht traf sie ihn ja hier, einfach so, im bunten Gewimmel?
»Ich habe keine Angst«, flüsterte Caroline, doch ihre Finger krampften sich in den Stoff ihres Leinenkleides. Der Schweiß klebte ihr im Nacken, und ihr Blut fuhr in ihren Adern Achterbahn, so schnell pumpte es ihr Herz durch ihren Körper. Sie schien nur noch aus Adrenalin zu bestehen.
So unauffällig wie möglich versuchte sie, sich umzusehen. Denn: Wer immer das war – sie war allein mit ihm. Ganz allein. Niemand wusste, wo sie war. Niemand außer Michi, der jetzt wahrscheinlich den tiefen Schlaf des zu Recht wütenden Achtjährigen schlief.
Der Fremde musterte sie mit einem kleinen undeutbaren Lächeln, das Caroline noch nervöser machte. Weshalb? Und überhaupt: Wie kam er hier herein? War er ihr gefolgt? Wer war er? Ein Wahnsinniger, der junge Schauspielerinnen ermordete? Sie blinzelte. Im Scheinwerferlicht lösten sich seine Umrisse in den Schatten der Kulissen auf. Das konnte nicht sein. Es musste an dem Unterschied zwischen dem hellen Schein der Lampen und dem funzeligen Leuchten des Geisterlichts liegen.
Sie brauchte dringend mehr Schlaf, entschied sie, ehe sie sich räusperte und noch einmal sagte: »Ich habe keine Angst.« Wie dünn ihre Stimme in dem großen, leeren Theater klang …
»Lügnerin«, sagte er sanft.
Caroline nahm all ihren Mut zusammen und hob ihr Kinn. »
Sollte
ich denn Angst haben?«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich will dir ganz gewiss nichts Böses. Also musst du entscheiden.«
Ihr Blick versank in seinen hellen Augen. Er stand nur zwei, drei Meter von ihr entfernt. »Was machst du hier? Bist du ein Einbrecher? Viel zu holen gibt es hier nicht …« Sie machte eine kleine, wegwerfende Handbewegung zum runtergekommenen Zuschauerraum.
»Was denkst du, was ich hier mache?«
Seine hellen Augen glänzten spöttisch. Die Intensität ihres Ausdrucks war beeindruckend. Sie schillerten zwischen Ernst und Spiel, wie sie es nicht für möglich gehalten hatte. Sein ganzer Körper stand unter Spannung, und seine Haltung erinnerte sie an das Nijinski-Ballett in
L’après-midi d’un Faune
, ein knisternder Schwarz-Weiß-Film, den sie an der Schule gesehen hatten, als es um Ausdruck ging.
»Was glaubst du, wer ich bin?«, fragte er leise. Seine Stimme war tief und weich wie ein Streicheln. »Oder: Was willst du in mir sehen?«
Wollen? Seine Frage verwirrte sie und Caroline wägte ihre Antwort ab. »Du trägst ein Kostüm …«
»Ja. Und weißt du auch, welches?«
»Du bist Romeo …«, flüsterte sie mit trockener Kehle. »Aber weshalb hast du dich so verkleidet? Hat Carlos dich vorsprechen lassen und dich dann abgewiesen?«
Er lachte. Es klang schön. Tief und natürlich, und der Klang kam irgendwo aus seinem flachen, harten Bauch, der sich unter dem dünnen Wams abzeichnete. Das war kein Einbrecher. Dieser Mann spielte ihr nichts vor. Er lehnte dort, weil er hierhergehörte. Er war, wo er sein sollte.
Wieder glitt ihr Blick zu dem dunklen Fleck an seiner linken Seite. Je länger er dort unter dem Geisterlicht stand, umso deutlicher konnte sie ihn sehen. Jetzt war er – wie sollte sie es sagen – ganz
da
: Die Mauersteine schimmerten nicht mehr durch ihn durch. Und hatten es natürlich nie getan. Sie hatte sich einfach verguckt, das war alles. Sie zeigte auf den tiefroten Fleck an seine Seite.
»Du hast dich verletzt. Das sieht ganz schön gefährlich aus. Solltest du nicht zum Arzt gehen?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln. »Vielleicht muss die Wunde genäht werden?«
»Dazu ist es zu spät,
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