Sommerstueck
Fotos machte, konnte doch nur bedeuten: Sie wollte sich erinnern. Sie glaubte, daß ihr Zeit dazu blieb.
Und war das nicht der Tag, an dem frühmorgens auch Anton aufgetaucht war, und zwar in der für ihn bezeichnenden Weise: Er hatte, in eine Zeltplane gewickelt, schlafend auf der Bank vor dem Haus gelegen, Fritz Schependonk, der sein Pferd sehr früh auf die Wiese führte, hatte mit der Peitsche an Jans Fenster geklopft und ihn geweckt: Bei euch vorm Haus liegt ein Landstreicher. Dann mußte er die Begrüßung des verschlafenen Landstreichers durch Jenny erleben. Aus einer der Taschen seines weitläufigen, abgetragenen Parkas hatte Anton drei Schößlinge seiner roten japanischen Quitte und einige Pfund märkischer Erde herausgeholt, Gastgeschenk, sagte er, sofort suchte Jenny eine Stelle am Zaun, die für die Reiser passend war, feierlich wurden sie eingepflanzt und gründlich gewässert, sie wuchsen an und legten aus, sie bildeten sich zum schönsten Strauch in der Zaunreihe, wurden geliebt, mit Bedeutung beladen und gehegt, blieben vom Feuer verschontund stehen immer noch da, am alten Fleck. Anton, der per Anhalter reiste und sich auf den merkwürdigsten Vehikeln die Nacht um die Ohren geschlagen hatte und mit den sonderbarsten Leuten, die alle genau auf ihn gewartet hatten, um ihn mit ihren Problemen zu beladen – Anton wurde keine Zeit zum Schlafen zugebilligt, er geriet sofort in die Vorbereitungen des Malvenfestes, das für den Nachmittag anstand. Littelmary leitete das Unternehmen, nach ihren Wünschen mußte Anton auf dem Küchentisch – auf dem Jan gleichzeitig mindestens vier Fischarten säuberte, ausnahm und zu einer Fischsuppe verarbeitete – ein riesiges Plakat mit der Aufschrift HOTEL MALVE in allen Regenbogenfarben bemalen, und dann mußte er auf die Leiter klettern, um das Plakat draußen über der Küchenecke aufzuhängen, während Littelmary ihm beteuerte, daß sie die Leiter festhalte und ihm nichts passieren werde, und während Irene erschien, um zu fragen, ob der Kirschkuchen von neulich gut genug gewesen sei, um heute noch einmal ihren Beifall zu finden, und Anton, der Irene zum erstenmal sah, sich der Situation ganz und gar gewachsen zeigte: Kirschkuchen? Immer! sagte er, und Irene sagte, ich nehme an, Sie sind Anton, wegen dem roten Bart, worauf Anton erwiderte, er sei zwar Anton, werde aber nicht mit Sie angeredet. In Ordnung, sagte Irene, also geh ich jetzt backen. Aber die Kirschen entsteinen! rief Anton noch, und Irene: Was denkst denn du!, und glücklich davonging, auf der Dorfstraße den einarmigen Briefträger traf, der heute, am Rentenzahltag und fast am Ende seiner Tour, schon leichte Schlagseite hatte, sein Rad aber noch schnurgerade führen konnte. Tag, Herr Schwarz. Tag ok, Tag ok. Nun würde er zu Janans Küchenfenster treten, die Post hineinreichen, den letzten Schnaps des Tages herausgereicht bekommen, dann den allerletzten: Auf einem Bein kann man nicht stehen!, und sich in weitläufigen Erörterungen über die Ernteaussichten ergehen. Aus Fischsuppe, nee, da machte er sich nichts, aber Zander, gedünstet, oder auch Kabeljau, dafür war er zu haben, und Jan sagte: Auch nicht schlecht, und brachte Ellen ihre Briefe, die sie, wie immer, nicht liegenlassen konnte und mitten in der Morgenarbeit aufmachte, und darunter war auch der Brief, auf den sie gewartet hatte, Jan hatte es gesehen, und den sie als letzten aufriß, während er die Tür hinter sich schloß und noch ein paar Worte mit dem Briefträger sprach, der im kommenden Winter schon, in einer klirrenden Frostnacht, nach einem Unfall mit seinem Fahrrad mit einem gebrochenen Bein liegenbleiben und elendiglich ganz in der Nähe eines Gehöfts erfrieren würde. Wie kann man an so etwas denken, in den Tagen der größten Hitze des Jahres.
Und fast kein Wort würde gewechselt werden zwischen Jan und Ellen über diesen Brief, mittags würde Jan einen Blick auf Ellens Gesicht werfen, würde schweigen und sie nicht zum Reden auffordern. Wieder einmal hatte ein Mensch, dem sie sich vertrauensvoll eröffnet hatte, sich vorsichtig zurückgezogen und distanziert, und jedesmal traf es sie wie beim erstenmal, und die Trauer, die sie hinunterwürgte, bezog sich nicht nur auf diesen Menschen, sie bezog sich auf sie selbst. Immer seltener würde sie den Mut zu diesem Vertrauen aufbringen, immer häufiger seine Folgen rechtzeitig bedenken, die Verletzungen meiden und sich verschließen.
So ist das eben, wenn man sich darauf
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