Sommersturm
sie. „Nein, nicht so. So wie ich. Hier, direkt neben mich.“
Schließlich
lagen wir nebeneinander auf dem Rücken, platt wie Schollen, unsere
Fingerspitzen berührten sich.
„Jetzt
schau nach oben in den Himmel“, sagte Luisa. „Ich mach dasselbe.“
Trotz
der großen Hitze war der Himmel von einer dünnen, halb durchsichtigen Wolkendecke
überzogen. Je länger ich nach oben schaute, umso näher kamen die Wolken. Luisa
bat mich, die Augen zu schließen. Ein paar Vögel sangen in den Bäumen, drüben
am Strand stritt eine Hand voll Möwen um ein Stück verfaulten Fisch.
Keine menschliche Stimme weit und breit. Luisa schwieg. Ich wusste nicht, auf
was das alles hier hinauslaufen sollte, hatte aber das Gefühl, als ginge die
besondere Atmosphäre dieses Ortes durch Luisa, zu der ich durch die
Fingerspitzen Kontakt hatte, immer mehr auf mich selbst über.
Wie
weit ich mit meinen Gedanken schon weg war, merkte ich erst, als ich plötzlich
wie aus großer Ferne Luisas Stimme hörte.
„Siehst
du die beiden jetzt auch?“, fragte sie mich. „Die Liebenden, die vor langer
Zeit hier gewesen sind? Sie waren damals genau so alt wie wir jetzt.“
Ich
strengte mich an, sah aber nichts als die flackernden Lichtpunkte der Sonne
hinter meinen geschlossenen Augenlidern. Trotzdem sagte ich: „Na klar seh ich
sie. Ganz deutlich sogar.“
„Dann
erkennst du ja auch, dass sie glücklich sind und unglücklich zugleich:
Glücklich, weil sie sich lieben, und unglücklich, weil keiner wissen darf, dass
sie es tun.“
„Warum
darf es keiner wissen?“
„Sie
müssen sich im Verborgenen lieben“, erzählte sie unbeirrt weiter. „Die anderen
Menschen sagen, dass sie nicht zueinander gehören. Die Mutter des Mädchens hält
man in der ganzen Stadt für eine Hexe. Vielleicht ist sie es auch. Die Eltern
des Jungen aber gehören zu den angesehensten und reichsten Leuten der Stadt.“
„Was
soll das heißen, eine Hexe?“, fragte ich.
„Eine
Hexe ist eine Frau, die ihren eigenen Weg geht, der es egal ist, was die Leute
über sie reden.“
„Wie
meine Tante?“
„So
ungefähr.“
„Ungefähr
oder genau?“
Luisa
zögerte. „Ganz genau“, sagte sie dann.
„Warum,
meinst du, werden Hexen von anderen so gehasst?“
„Weil
die anderen sie nicht verstehen. Und weil Hexen eigensinnig sind, das passt den
anderen nicht. Sie tun immer genau das, was von den anderen nicht erwartet
wird. Ich glaube, deshalb haben sie Angst vor ihnen."
„Bist
du eine Hexe?“
„Vielleicht,
manchmal…“
„Gibt
es auch Männer, die Hexen sind?“
„Aber
natürlich.“
„Bin
ich dann eine männliche Hexe?“
„Vielleicht,
manchmal…“
„Erzähl
weiter. Wie hießen die beiden?“
„So
ähnlich wie wir.“
„Luisa
und Julian?“
„Kann
sein. Vielleicht auch Julia und Luis, das kann man nicht mehr so genau sagen.
Sie hatten viele Namen.“
„Erzähl
weiter.“ Ich dachte daran, wie meine Mutter mir als Kind Märchen erzählt hatte,
wenn ich nicht einschlafen konnte. Diese Zeit kam mir jetzt so unendlich weit
weg vor... und war doch gleichzeitig seltsam nah.
„Die
beiden waren glücklich“, sagte Luisa, „dass es diesen Ort gab. Sonst hätten sie
sich nirgendwo treffen können.“ Sie grinste: „Kinos gab es damals nämlich noch
nicht.“
„Und
warum nur hier?“, fragte ich.
„Weil
es ihr Ort war.“
„So
wie jetzt unser Ort?“
„Genau
so.“
„Erzähl
weiter.“
„Hier
haben sie sich ihre Liebe gestanden, sich das erste Mal geküsst und später sehr
oft geliebt. So lange sie nur hier waren, war alles
gut. Kein anderer Mensch hat sie je an diesem Ort entdeckt. Heimlich haben sie
sich Briefe geschrieben, um sich zu verabreden. Eine ganze Zeit lang ging das
gut. Monate, vielleicht sogar ein Jahr.“
„Wie
lange ist das alles her?“
„Hundert
Jahre? Oder noch länger?“
„Du
hast es selbst gesagt: Vor hundert Jahren war hier noch das Meer.“
„Das
stimmt, aber es ändert nichts an der Geschichte. Atlantis ist auch versunken.
Vielleicht war hier Atlantis.“
Natürlich
hätte ich das alles für Schwachsinn gehalten, wenn ich noch ganz bei mir gewesen
wäre, aber wahrscheinlich war ich das nicht, denn ich sagte nichts.
Luisa
erzählte weiter: „Eines Tages bekam jemand einen der geheimen Briefe in die
Hand, in dessen Hand er nicht gehörte. Er war ein angeblicher Freund des
Jungen. Aber er verkaufte den Brief an dessen Vater, der vor Schreck und
Aufregung einen Herzanfall bekam. Als er sich
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