Sommersturm
wieder erholt hatte, zeigte er
seinem Sohn den Brief. Der sah keinen Grund, seine Liebe zu dem Mädchen
länger zu verbergen. Der Vater zeigte kein Verständnis und hätte vor Zorn
beinahe einen zweiten Herzanfall erlitten. Seinen Sohn verdonnerte er zu einem
Jahr Hausarrest. Der aber war entschlossen, seine Geliebte niemals zu
verlassen.“ Luisa machte eine so lange Pause, dass ich schon befürchtete, sie
wäre in der warmen Sonne eingeschlafen. Ich war merkwürdig gefangen von dem,
was sie erzählte.
„Erzähl“,
forderte ich sie auf. „Wie ging es weiter?“
„Ohne
dass der Sohn etwas davon wusste, ließ der Vater, der ein mächtiger im Rat der Stadt
war, gleichzeitig das Mädchen und ihre Mutter in den Kerker werfen. Dort
sollten sie vor sich hin faulen, bis sein Sohn zur Vernunft gekommen war.
Offiziell wurden die beiden beschuldigt, den Brunnen der Nachbarin vergiftet zu
haben - was natürlich nicht stimmte.
Der
Sohn aber bekannte sich zu seiner Liebe, ohne zu ahnen, dass er das Leid seiner
Geliebten mit jedem Bekenntnis nur verlängerte. Der Plan seines Vaters war
wahrhaft teuflisch.
Eines
Nachts verließ der Junge unbemerkt das Haus. Als erstes kam er hierher, an
diesen Ort, weil er glaubte, dass sie sich vielleicht an diesem See versteckte
und auf ihn wartete. Doch er fand sie nicht. Dann ging er zu dem Haus des
Mädchens, in dem sie mit ihrer Mutter gewohnt hatte. Leer und verlassen wie ein
Geisterhaus kam es ihm vor in jener sternklaren Nacht. Er erkannte, dass dort
schon seit Wochen niemand mehr gewesen war. Er kannte den Einfluss und die
Skrupellosigkeit seines Vaters und zählte eins und eins zusammen.“
Luisa
atmete tief durch, bevor sie weitererzählte: „Es dauerte nicht lange, und der
Junge war vor Kummer und Erschöpfung auf der Schwelle des Hauses eingeschlafen.
Als er aufwachte, dämmerte es schon. Auf einmal wusste er ganz genau, was er zu
tun hatte.“
Wie
einen Film, der mich immer mehr in seinen Bann zog, sah ich Luisas Geschichte
vor meinem inneren Auge ablaufen. Die Figuren in diesem Film trugen wechselnde
Gesichter von Fremden, manchmal jedoch tauchten Menschen auf, die ich kannte:
Luisa, Dean, Henry, Betty und Martha, Roger und Kurt und ab und zu sogar ich
selbst. Dabei konnte ein Gesicht, das gerade noch Luisa gewesen war, plötzlich
Bettys Züge annehmen. Martha wurde zu Dean und so weiter. Es war wie ein Traum,
ein Wachtraum.
Luisa
fuhr fort: „Als es Abend und wieder dunkler wurde, ging der Junge zum
Gefängnis. Er machte die drei Wächter betrunken, horchte sie aus und nahm ihnen
dann den Schlüssel zur Zelle seiner Geliebten ab.
Am
selben Tag war die Mutter des Mädchens gestorben. Sie war in dem Verlies krank
geworden. Ihre Tochter hatte nur überlebt, weil sie jung und kräftig war. Aber
sie schien sehr ausgezehrt und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Aber die
beiden haben es bis zu diesem Platz hier geschafft.“
Luisa
hatte sich aufgesetzt. Ich spürte ihre Finger nicht mehr an meiner Hand.
Vorsichtig öffnete ich die Augen und blinzelte in die Sonne. Ich sah, dass
Luisa das Kinn auf ihre Knie gelegt hatte und auf das braune Wasser hinaussah.
„Was
ist aus den beiden geworden?“, fragte ich.
„Sie
sind zusammen geflohen. In ein anderes Land. Und sie kamen nie mehr hierher
zurück.“
Ich
richtete mich auf und legte meinen Arm um Luisas Schulter. Ich fühlte mich
benommen und doch ausgeruht.
„Du
hast Gänsehaut“, sagte ich. „Lass uns zu mir nach Hause gehen.“
Sie
schien mich gar nicht gehört zu haben. Sie war mit ihrer Geschichte noch nicht
zu Ende.
„Vielleicht
lebt ja ein Teil von ihnen in uns weiter“, sagte sie. Sie lächelte.
„Vielleicht“,
sagte ich und betrachtete das Lichtmuster, das die untergehende Sonne auf die
Wolken und den Himmel zeichnete. Es war kalt geworden.
„Ich
möchte jetzt nicht gehen“, sagte Luisa und kam ganz nah zu mir. „Ich möchte,
dass wir uns lieben. Und zwar hier. Und jetzt.“
„Es
ist zu kalt“, sagte ich, legte meinen Arm um sie und lächelte sie an. „Dann
holen wir uns schon jetzt den Tod und unsere Geschichte wäre zu Ende bevor wir
fliehen können.“
„Du
bist blöd!“, rief Luisa, sprang auf und lief davon.
„Hei,
Luisa, warte!“, rief ich ihr hinterher. „Ich hab es doch nicht so gemeint.
Bleib doch stehen, bitte!“
Aber
sie rannte weiter, quer durchs Gestrüpp. Sie sah sich nicht
um.
12
Seit
Tagen war Henry wie ausgewechselt. Seine Augen
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