Somnambul Eliza (German Edition)
abzuhalten. Valerius Duft
war in ihre Haare gewoben.
Sie saß seit Stunden im Zug, ohne ein
einziges Mal den Blick durch den Großraumwagen schweifen zu lassen, ohne etwas
zu essen, zu trinken oder zu schlafen.
Auch, wie lange sie diesmal so reglos verharrt
hatte, vermochte sie nicht zu beurteilen, als der nächste Halt Würzburg
angekündigt wurde und sie ihre kribbelnden, heißen und mit den Abdrücken ihrer
Jeansnähte versehenen Hände zwischen ihren Knien hervorzog. In Würzburg musste
sie umsteigen. Die monotone, seltsam körperlose Stimme des Zugführers hallte
durch ihren Kopf wie durch eine leere Bahnhofshalle und informierte über die
möglichen Anschlusszüge und über Verspätungen, doch Eliza konnte keiner dieser
Informationen habhaft werden. Zu schnell huschten sie vorbei und waren schon
durch ihre Ohren entwischt, ehe sie sich dazu entschließen konnte, sich auf
ihre Gegenwart zu konzentrieren.
Mit der beflissenen Sicherheit eines
Schlafwandlers schlüpfte sie in ihren Desigual -Mantel,
dessen bunte Fröhlichkeit ihre tatsächliche Stimmung Lügen strafte und griff
nach ihrem roten Hartschalentrolley .
Der ICE nach Kassel war pünktlich. Noch
eine Stunde bis sie ihrer Oma erzählen musste, was sie so überstürzt nach Hause
trieb.
Als sie den Bahnhof in Kassel-Wilhelmshöhe
erreichten, hatte sie noch immer nicht zu Hause angerufen und sich angekündigt.
Also blieb ihr nichts anderes übrig, als ein Taxi zu nehmen.
Ihr Elternhaus lag im Kasseler Osten, in
der Unterneustadt, direkt an der Drahtbrücke, die über die Fulda führte. Es
wirkte wie ein exotisches Relikt aus einer längst vergangenen Zeit. Rings um
die wilhelminische Backstein-Fachwerkvilla waren in den letzten Jahren
hochmoderne Stadtvillen in kühlem Design mit klaren Linien aus dem Boden
gesprossen, die das verspielte und von Efeu überwucherte Jahrhundertwendehaus
mit seinen verwinkelten Spitzgiebeln und seinem verwilderten Garten immer mehr
wie ein Hexenhaus erscheinen ließen, das man entweder irrtümlich an diesen Ort
gebeamt hatte oder dessen Kulisse man nach Dreharbeiten für einen Märchenfilm
vergessen hatte, abzubauen.
Aus einem gekippten Fenster im ersten
Stock klang klassische Musik und so wunderte es Eliza nicht, dass sie mehrmals
klingeln musste, bis die Haustür geöffnet wurde. Im Türrahmen erschien eine
zierliche, nahezu hagere kleine Person mit einer wild-wallenden, grell
orange-gefärbten Haarmähne und einer Zigarette im etwas schiefen Mundwinkel.
„Eliza, mein Kätzchen! Was machst
du denn hier?“
Die Frau ließ ihre Zigarette fallen und
trat sie routiniert auf dem steinernen Podest vor der Haustür aus. Dann
breitete sie die Arme aus und drückte Eliza mit einer ungestümen Kraft an sich,
die man dem schmalen Persönchen kaum zugetraut hätte.
„Ich bin so froh, dich zu sehen, Omi“,
entgegnete Eliza statt einer Antwort und atmete das
vertraute Duftgemisch aus Parfüm und selbstgedrehten Zigaretten ein.
„Komm rein, mein Schatz und erzähl mir,
was passiert ist. Womit hat er dich geärgert?“
Eliza schaute ihre Großmutter überrascht
an. „Woher weißt du, dass es etwas mit ihm zu tun hat?“
„Womit soll es denn sonst zu tun haben,
wenn du hier plötzlich, ganz ohne Vorwarnung vor der Tür stehst?“ Oma Sibylle
verdrehte ihre mit viel Kajal umrandeten großen Augen und grinste
verschwörerisch, so dass der zum breiten Lächeln verzogene Mund das ganze
schmale, markante und blasse Gesicht ausfüllte. Sie ging Eliza voraus in die
Wohnküche. Dabei schlurften ihre Füße wenig elegant über den Boden, denn sie
versuchte in ihrem fast bodenlangen schwarzen Strickkleid größere Schritte zu
machen, als der Schnitt des Kleides zuließ. Im düsteren Flur, der ihre schwarz
gekleidete Gestalt fast verschluckte, leuchtete ihre orangene Löwenmähne wie
eine riesenhafte Fackel den Weg.
Sibylle nahm eine Flasche Wein aus dem
Weinregal und Eliza holte Gläser aus einem der Hängeschränke. Dann ließen sie
sich auf der alten Eckbank am Küchentisch nieder, mit der Eliza so viele
Kindheitserinnerungen verband. An diesem Platz und auf diesem Tisch hatte sie
ihre ersten Bilder gemalt, Plätzchen gebacken, Ostereier gefärbt und
Hausaufgaben gemacht.
Omas Sibylle kramte ein Päckchen Tabak,
Zigarettenblättchen und Filter hervor und begann ein paar Kippen auf Vorrat zu
drehen, ein untrügerisches Zeichen dafür, dass sie
sich auf ein langes, intensives Gespräch vorbereitete. Sie stellte keine
weiteren
Weitere Kostenlose Bücher