Somnambul Eliza (German Edition)
unschuldig sexualisierten
Wesens, das nackt in die Natur drapiert wird, wird in der Kunstgeschichte sonst
ausnahmslos der Frau zugewiesen.“
Noch immer hatte Eliza Mühe, den Blick
von dem Bild abzuwenden und erst jetzt fiel ihr auf, dass es in diesem
wunderbaren Zimmer nur ein einziges Bücherregal gab, das noch dazu lediglich
mit Duden und Wörterbüchern in allen erdenklichen Sprachen gefüllt war.
„Ich glaube, ich weiß, was du suchst.
Ich würde dir jetzt gern den Raum zeigen, der dich in diesem Haus sicherlich am
meisten interessieren wird“, beantwortete Valeriu ihre unausgesprochene Frage
und öffnete die Flügeltüren zu dem angrenzenden Raum.
Eliza verschlug es erneut fast die
Sprache. Sie standen in der schönsten Privatbibliothek, die sie je gesehen
hatte. Die alten edelhölzernen Bücherregale reichten ringsum bis an die hohe
Decke und die oberen Regalböden waren nur mithilfe einer nostalgischen
Bibliotheksleiter zu erreichen. Die ältesten Exemplare waren in Leder gebundene
Bände aus dem frühen 18. Jahrhundert, doch die beeindruckende Sammlung
erstreckte sich bis zu den aktuellen Neuerscheinungen der jüngsten Zeit. Es gab mehrbändige namhafte Werkausgaben aller bekannten und
vieler unbekannter Autoren und Philosophen, außerdem einen gewichtigen
Schwerpunkt auf Elizas eigenem Fachgebiet, der Kunstgeschichte, die eine ganze
Wand einnahn . Wunderschöne Bildbände reihten sich an
exquisite Künstlerausgaben und schwergewichtige Ausstellungskataloge. Sie
entdeckte allein mehrere mehrbändige Kunstlexika aus
verschiedenen Jahrhunderten sowie hochkarätige Künstlermonographien, die einen
Bogen von der Renaissance bis zur Gegenwartskunst schlugen. Doch auch andere
Fachrichtungen waren vertreten. Ein ganzes Regal war mit Geschichtsbüchern
gefüllt, eines mit medizinischen Fachbüchern, ein weiteres mit juristischen und
ein viertes mit psychologischen sowie biologisch-botanischen. Außerdem gab es
ein Regal, das religiösen Themen gewidmet war und das neben vielen Büchern zum
christlichen Glauben und zahlreichen Werken zu den übrigen Weltreligionen offenbar
auch esoterische und spirituelle, bis hin zu okkulten Werken beherbergte.
Ehrfürchtig schritt Eliza an den Bücherschränken entlang und berührte mit
zärtlichen Fingerspitzen die Buchrücken.
Nachdem er sie eine Weile so beobachtet
hatte, lachte Valeriu leise auf.
„Du behandelst die Bücher wie einen
Liebhaber.“
In seiner Stimme lag nichts Ironisches,
lediglich liebevolle Faszination.
„Ich habe gewusst, dass du Hochachtung
vor ihnen haben würdest. Sonst hätte ich dir den Zugang zu meinem Heiligtum
nicht gewährt.“
Eliza drehte sich zu ihm um, als hätte
er sie aus einer Meditation gerissen. Er saß mit lässig
übereinandergeschlagenen Beinen in einem von zwei gemütlichen Ohrensesseln, die
am Kamin standen und zwischen denen ein kleines Tischchen als Ablage diente.
Daneben stand der einzige verglaste Bücherschrank im Raum, in dem offenbar die
ganz besonders wertvollen Schätze aufbewahrt wurden. Über dem Kamin hing ein
Gemälde, in dessen Zentrum sich eine überaus rätselhafte Gestalt in einem
riesigen, aus Gold gewirkten Umhang befand, der wie gewaltige Schwingen um sie
ausgebreitet war. Die Figur kauerte kniend auf dem Boden wie ein Mönch und
hielt das Gesicht in die Hände gestützt wie der klassische Melancholiker. Der
Kopf der Gestalt war kahlgeschoren und schimmerte weißlich. Er gemahnte an
einen Totenschädel. Um die Gestalt herum war dunkelblaues Nichts, eine
monochrome Fläche, ein sphärischer Nichtraum.
Eliza trat zu Valeriu: „So eine
Bibliothek ist immer mein Traum gewesen. Hier gibt es so viele wunderbare
Bücher, dass ein Menschenleben kaum ausreicht, um sie alle zu lesen.“
Valerius Blick verdunkelte sich. Mit
tonloser Stimme bestätigte er: „Ein Menschenleben ist dafür in der Tat zu
kurz.“
„Ist das der Grund, warum dieses Bild
dort hängt?“ fragte Eliza.
Valeriu schaute zu dem goldgewandeten
Melancholiker hinüber, als sehe er ihn zum ersten Mal.
„Ja, vielleicht ist das der Grund. Die
Frage nach dem Sinn unserer Existenz werden uns die Bücher niemals beantworten. Und sehe, dass wir nichts wissen können! Das will mir schier das Herz
verbrennen “, rezitierte er und seine schöne raue Stimme machte Fausts
große, resignierte Worte so glaubhaft zu den seinen, dass es Eliza einen
Schauer über den Rücken jagte.
Doch im nächsten Moment hellte sich Valerius
Miene wieder auf und er
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