Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
Wort fällt über das Gelesene. Ein jüngeres Ehepaar blieb im Saal sitzen und sprach leise miteinander, auch als ich ging. Meine Eitelkeit gaukelte mir vor, sie sprächen über meinen Text (den ich noch etwas fester binden könnte). Vermutlich war die Rede von Zugverbindungen.
Der Neuaufbau Neubrandenburgs hätte schlimmer kommen können. Die Stadt wurde 1945 von den Russen abgefackelt, weil ein paar Hitlerjungen auf sie geschossen hatten.«Wo haben sie gewohnt nach dem Brand?»habe ich gefragt. -«In der Umgebung, bei Bauern in den Scheunen.»- In der Buchhandlung herrscht noch strenge Zucht, kein Kempowski-Buch, obwohl ich doch Gast war in dieser Stadt. Glaube nicht, daß ich je wieder nach Neubrandenburg komme.
2007: Doch, zur Verleihung des Johnson-Preises 1995.
Die Mauer mit den Toren und den Wieckhäusern steht noch, der Verkehr fließt um die wiederaufgebaute Stadt herum. Bei einem Antiquar kaufte ich einen hübschen Mädchenkopf (Radierung). Er hatte auch Theaterskizzen, Aquarelle, sozialistische. Für die hatte ich jedoch keine Verwendung, obwohl ich sonst nach allem Sozialistischen greife. Mir schwebt das Porträt eines FDJlers vor mit roten Backen.
Neubrandenburg, diese Stadt hat wie Dachau einen schlechten Ruf. Die Nazis hatten hier ein Lager, und das Russen-KZ Fünfeichen lag in der Nähe. Gott, was für eine Geschichte. Tausende sind hier zugrunde gegangen. Detlef hat hier drei Jahre gesessen, für nichts. Auch meine ehemaligen Lehrer Rust, Neumann und andere.
Hier ist Mecklenburgischer Landsmannschaftstag. An einen Tisch des Betonrestaurants wurden wir gebeten, vier Mecklenburger, von denen die eine sagte, sie sei aus Rütz, und sie wären auf Irene Zacharias gar nicht gut zu sprechen 9 . Sie kennten sie, und alle Bauern des Dorfs wären wütend auf sie, das wär’ nicht so, wie die gute Irene das geschrieben hätte, das hätte sie man lieber lassen sollen usw.«Wir sind ziemlich wütend auf sie.»Aber was falsch ist an der Darstellung, haben sie nicht gesagt.
Vor einem der vier Stadttore saßen zwei gutaussehende junge Menschen (von«hier»), die den angereisten Mecklenburgern anläßlich der Mecklenburg-Tage vorführen wollten, wie man Korn auf einem Stein zerschrotet, ein Steinbeil durchbohrt mit hölzerner Bohrgeige usw. Neben ihnen lagen Knochen aus Moorfunden, der Schädel eines Auerochsen. Niemand interessierte sich dafür, ich stand eine Zeit dabei und unterhielt mich mit ihnen. – In einem der Stadttore, die tadellos erhalten sind, Bronzeskulpturen eines Antiquitätenfälschers aus der Gegend. Der hat im 18. Jahrhundert heidnische Figuren sich ausgedacht und im Keller seines Hauses gegossen,«aus Geldgier und Geltungsbedürfnis», steht auf der Tafel. Jetzt stehen sie also im Museum, und die Aktivitäten des Mannes kamen mir verdammt verwandt vor.
Auf der Rückfahrt kauften wir an der Straße frische, noch warme geräucherte Aale. Keine verschimmelten Exemplare darunter, wie in Wilhelmshaven vor einiger Zeit.
2007: Die Neubrandenburger haben später mein«Echolot»im Theater aufgeführt, ihnen blieb das vorbehalten. Der Regisseur ließ die Teilnehmer durcheinanderbrabbeln. Das Band habe ich noch. Eine der Teilnehmerinnen stellte die Frage, ob das datenschutzmäßig überhaupt statthaft sei?
Feldberg/Mecklenburg Sa 14. September 1991
Häufig wiederkehrender Traum:
Ich stehe an einem Teich (künstlich?), in dem unter den Schlinggewächsen große schwarze Fische schwimmen. Ich soll oder will in dieses Wasser steigen und scheue mich, die Tiere zu berühren (Angst eigentlich nicht). – Eine Variante: Ich gehe eine Waldwiese entlang und sehe, daß in einiger Entfernung Bisons und große Ochsen wild herumlaufen. Ich verstehe nicht, daß man diese Tiere (Bären) nicht einsperrt?
Fallada-Haus, Frau Lang, sie will mir Fallada-Briefe schikken, in der Hand gehalten habe ich sie schon. F. hätte damals, also Januar/Februar 1943, besonders viele Briefe geschrieben, manchmal sechs Stück an einem Tag. Ich hab’ ihr Ms.-Seiten für ihr Archiv von mir versprochen, falls sie mir einige Briefe zugänglich macht. Die Rechte hat eine Frau in Braunschweig, die«ziemlich aufpaßt».
Dietzel, dem das Archiv unterstand, hat nichts davon gesagt. Das ist eigentlich unfreundlich. So hat er sich am Klassenfeind dann doch noch gerächt. Die drei Briefe, die er mir überließ,«sprechen Bände», könnte man sagen.
2007: Nie wieder was davon gehört.
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