Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
und das große Triumphkreuz hinten an die Orgel gehängt. Und den warmen, freundlichen Fußboden herausgerissen und durch Muschelkalkfliesen ersetzt. Warum?
Was alles stirbt mit einem Menschen. Die große fränkische Vergangenheit der Schwiegermutter, in Nördlingen aufgewachsen, die Freundschaft eines Vorfahren mit Mörike, die Klemms. Ich habe mich länger damit beschäftigt. (Das erregte Mißtrauen.) Blaubeuren spielte eine Rolle und Nürnberg. Nun sind sie alle tot, und das fränkische Erbe ist aufgegangen im Ostfriesischen der Janssen-Linie. Nur ein paar Antiquitäten, Töpfe, Zinnteller,«Butzscheren»sind noch übrig, die verschwinden jetzt in alle Himmelsrichtungen. Modeln, handgeschnitzt.
Nartum Mi 18. September 1991
I973: Aufnahme der DDR in die UNO
Fulbright-Leute waren hier. Obwohl diese Germanisten doch schon lange vorher wußten, daß sie bei mir einen Besuch machen würden, hat keiner eine Zeile von mir gelesen. Ob ich gläubig bin, wollten sie wissen. – Der deutsche Leiter der Gruppe schenkte mir ein sehr wertvolles Tagebuch, handschriftlich, wie ein Vater den Weg seines Sohnes an die Front verfolgt, der dann prompt fällt.«Egon».
2007: Auch später nie wieder was von den Leuten gehört, niemand hat sich zum Kempowski-Fan gemausert, obwohl ich ihnen sogar Klavier vorgespielt hatte und ihnen Schnitzel mit Kartoffelsalat servierte. (Die Texaner bekamen zwei.)
Nartum Do 19. September 1991
19. 9. 1991 (= sonderbares Datum!)
Schwere Träume. Zuerst lange von Uschi Schaubert, gestern war ich noch zusammen mit ihr, da heißt es: Sie ist tot. Ausgelöst wurde der Traum durch einen Fehler, den ich gestern am Computer machte. Ich ging«neben»das Textprogramm in den Apparat – neugierig – und löschte durch eine Taste eine ganze Diskette mit«Zwischentexten», das ging so schnell, als wenn es nichts wäre.
Dann geträumte Farbaufnahmen von deutschen Landsern, wie sie als Gefangene über ein grünes Feld getrieben werden.«Sie werden alle zugrunde gehen», denke ich und weine.
Rostock Sa 21. September 1991
Tag der Werktätigen des Bereiches der haus- und
kommunalwirtschaftlichen Dienstleistungen
I964: Otto Grotewohl gestorben
Lesung in der Petrikirche zugunsten des Turms, der wiederaufgebaut werden soll.
2007: Inzwischen«steht»er wieder, leider in seiner ganzen Größe nicht dem alten Turm gleichend, obwohl Fotos genügend zur Verfügung standen. Der«Buckel»fehlt. Immerhin, wer ihn vorher nicht gesehen hat … – Nun fehlt nur noch das Petritor, daneben. Das schaffen sie nicht. Das Feuer, das sie antreiben sollte, fehlt.
Das Tor wurde in einer Sonntagsaktion abgerissen, wird mir erzählt. Eine«Übung»sei das gewesen.
Nartum Mo 23. September 1991
Jahrestag der Pionierorganisation«Septemwritsche»
der Volksrepublik Bulgarien
In Rostock eine Frau:
Das kann ich nicht verstehen, warum der West-Quark besser sein soll wie unser Quark. Quark ist Quark.
Nartum Di 24. September 1991, warmer Sturm
Ich bin sehr fleißig, suche Zwischentexte heraus und gebe schwer lesbare Texte für«Echolot»ein. Die ersten beiden Januartage sehen jetzt ganz gut aus.
Frau Frohriep ist mit dem Register schon sehr weit, heute war sie zum letzten Mal da, angenehmer, rasch kapierender Mensch. Simones Freundin ist gerade dabei, das Exilarchiv in Frankfurt zu knacken, ich selbst habe Fallada-Texte besorgt (sie sind allerdings noch nicht da).
Landesbibliothek schickt nach und nach per Fernleihe Bücher, die leider öfters um das Frühjahr’43 einen Bogen machen.«Und Fluch vor allem der Geduld!»
Nach dem Tod von Mutter Janssen kommt Hildegard nun zur Ruhe, sie hatte in den letzten Wochen täglich am Bett gesessen. Es werden Pretiosen verteilt. Ich halte mich zurück. Auch die superwertvolle Brosche war dabei, die für Notzeiten von Generation zu Generation weitergereicht wurde. Glas und Blech, wie sich nun herausstellte.
Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand.
Politik: § 218, Jugoslawien, Pflegeversicherung, Asylanten.
Nartum Mi 25. September 1991, immer noch sehr warm, Regen
Impressionen aus dem heutigen TV:
Rumänische Bergarbeiter stürmen in Bukarest durch die Straßen, wüste Typen; serbische Bäuerinnen beweinen totgeschlagene Söhne und ihre ausgebrannten Häuser; Wilhelm von Sternburg liest, die Hand in der Tasche, den irregeleiteten Hoyerswerdaer Bürgern die Leviten. Ob sie denn noch Nazis sind?
Hier war es dann Lafontaine, der die Dinge
Weitere Kostenlose Bücher