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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Irgendwelche Verstrikkungen des Literaturbüros mit der Stasi, davon lesen wir jetzt.
     
    Auf der Herfahrt machten wir am Tollensesee Rast, ein urtümliches Gartenlokal, herrliches Wetter, der Heimatkundesee, Hannes Gosselck seligen Angedenkens.
    Hier hat Johanna Reincke, die Malerin, gelebt, von der die Eltern 1939 in einer philanthropischen Anwandlung ein Bild kauften. Niemand, der sich hier an ihren Namen erinnerte.
    2007: Inzwischen wird eine Ausstellung dort vorbereitet. Die Frau sei in der Nachkriegszeit buchstäblich verhungert. – Wie man mitten in Mecklenburg verhungern kann, ist mir ein Rätsel.
     
    Rheinsberg
    Wäre besser nicht hierhergekommen, alle Räume des Schlosses leergeplündert, die Wände grau übermalt. Kinder, Russen und Volkspolizei haben hier gehaust. Diese Leute haben überall hingepinkelt.
     
    2007: Inzwischen ist das Schloß wieder tipptopp in Ordnung.
     
    Im Park kam dann etwas herüber von der Klarheit des Geistes und von der Heiterkeit.
    Das ist wahr, wir sind mit unserer Geschichte wiedervereinigt.
     
    Diese Preußen-Sachen sind mir fremd und unheimlich. Klarheit des Geistes hat zum mindesten für Jahre nicht davor bewahrt, unweise zu handeln, und die Mecklenburger haben sie schlecht behandelt.«Ein Sack, auf den man draufschlagen muß, dann kommt Mehl raus»(Friedrich der Große). Selbiger sei so arm gestorben, daß ihm sein Diener ein Hemd von sich in letzter Stunde geben mußte. Klingt sehr nach Legende.
     
    Durch die Gegend fahren.
    Ravensbrück neben Rheinsberg. Wir ließen es links liegen.«Was, Sie waren noch nie in Ravensbrück?»
     
    Der Neffe, dessen Hobby vor Jahren Friedrich der Große war, zeigt kein besonderes Interesse an Rheinsberg, er hat auch keinerlei Kenntnis. Statt dessen belehrt er mich über das, was er gerade zuvor auf den Tafeln gelesen hat. Er denkt, weil ich schweige, sei ich irgendwie vielleicht ignorant? Oder gar behämmert?
    Ich sitze hier auf der Bank am See. In den 15 Minuten haben sieben Berliner (Papis) das Schloß fotografiert und drei videokamerasiert.
    Drei Amerikaner gehen vorbei, sie grüßen mich.
    Ältere Herren in Turnschuhen. Vielleicht Emigranten?
    Das Schlimmste sind ja wohl Hosenröcke. Diese Kleidungsstücke hätte sich ein Frauenfeind ausgedacht, heißt es.
     
    Vor einem Jahr wurde ich wegen Berlin befragt, ob Hauptstadt.
    Ein Moment der Hellsichtigkeit ließ mich sagen: Der Osten wird zu Europa werden, und Berlin ist dann der Mittelpunkt.
     
    «Sieht dett nich scheen aus?»sagt eine Berlinerin im Vorübergehen. In der Ferne, die Aussicht auf den lieblichen See verhunzend, eine Fabrik mit Schornsteinen. Ein bißchen weiter links, dann wäre alles gut gewesen. Aber Sozialisten achten nicht auf so was.

     
    Skizze von Walter Kempowski
    Nartum
    Die Begleitung durch den Neffen war angenehm, 350 km sind wir gefahren. Leider referierte er mir zeitweilig den«Spiegel».
    Jetzt hilft er uns beim Aufräumen des schwiegermütterlichen Zimmers und beim Abwickeln der sogenannten Formalitäten.
     
    Hildegard saß am Abend ganz erschöpft vor dem TV, mit einem Glas Wein und rauchend (was sie eigentlich aufgegeben hat). Sie meint, in der Nacht hätte sie deutlich gespürt, daß die noch nicht zur Ruhe gekommene Seele ihrer Mutter in ihrem Zimmer auf und ab gegangen sei. Es habe hier und dort ein wenig geknackt.
    Als ich die Eulenabdrücke am Fenster der Bibliothek sah, dachte ich einen Augenblick: Das war der Tod oder gar der Teufel, der die Seele holen wollte, wütend, daß er nicht reinkommen kann. – So hat jeder seine Gedanken. Alles stimmt irgendwie.
     
    Hildegard meint, ich sähe«verschlagen»aus. Allmählich muß sie draufkommen. Wie hätte ich sonst 60 Jahre alt werden können.
     
    Ein Herr in Mecklenburg:
    Ich habe zwar gehofft, daß die Wiedervereinigung kommt, aber daß es so schnell gehen würde, hab’ ich nicht gedacht, und daß ich es erleben werde, hab’ ich nicht geglaubt. Heimat war mein Herzblut. Ich bin sehr froh, daß es so gekommen ist.

Nartum So 15. September 1991
     
    Mit Lieschen geschimpft, weil sie auf ein Huhn losgegangen ist. Am Abend kam sie an, wollte sich mit mir versöhnen, Robby lag daneben. Ich sprach noch ein paar ernste Worte, da richtet sich Robby auf und leckt mir die Hand:«Nun laß doch, ist doch schon gut!»

Nartum Mo 16. September 1991
     
    Beerdigung von Mutter Janssen, die schöne Rotenburger Kirche«Zum guten Hirten». Leider hat man einen Teil des Freskos von Rudolf Schäfer übertüncht

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