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Somniferus

Somniferus

Titel: Somniferus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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nur Beine oder so –
›wie Säulen die Schrecken seiner Gegenwart tragen.‹
Ich hoffe, dass ich mich nicht vertan habe; es ist kein leichtes
Latein.«
    »Das entspricht exakt der bildlichen Darstellung in der
Initiale und auf dem Bleiglasfenster«, sagte ich mit trockenem
Mund und beugte mich seitlich über Lisa, um einen Blick auf die
betreffende Stelle zu werfen, die für mich allerdings immer noch
zum größten Teil wie Chinesisch aussah.
    Ich hielt den Kopf neben ihre Wange; beinahe hätten wir uns
berührt. Sie wich ein wenig zur Seite – zur anderen Seite.
»Aber was sagt uns das über den Ort des Heiligtums?«,
fragte ich und richtete mich wieder auf.
    »Natürlich, dass es sich in Noiomagus, also in Neumagen
an der Mosel befindet.«
    »Das heißt also: Auf nach Neumagen!«, rief
ich.
    Doch Lisa entgegnete ganz ruhig: »Nein, wahrscheinlich nicht.
Erstens können wir nicht einfach mit einer Schaufel und einer
Spitzhacke nach Neumagen fahren und auf der Hauptstraße oder
sonst wo zu buddeln anfangen, und außerdem sind dort schon
unzählige Ausgrabungen durchgeführt worden. Da werden wir
nichts mehr finden. Man hat gerade diesen Ort systematisch umgegraben
und eine Unmenge entdeckt. Ich weiß nicht, wie viele Grabungen
es dort gegeben hat, aber außer einer oder zwei Scherben wird
dort nichts Römisches mehr im Boden stecken, das kann ich dir
versichern. Alles, was man je in Neumagen gefunden hat, befindet sich
heute im Rheinischen Landesmuseum.«
    »Aber dann muss ja seit langem bekannt sein, dass es einen
Tempel des Gottes Somniferus gegeben hat«, sagte ich
enttäuscht. »Heißt das, wir haben nach etwas gesucht,
das überhaupt kein Geheimnis ist?«
    »Das würde ich so nicht sagen«, meinte Lisa.
»Einer meiner Vettern hat früher einmal im Rheinischen
Landesmuseum als Archäologe gearbeitet. Leider ist er inzwischen
nach Amerika gegangen, sonst könnte er uns problemlos
weiterhelfen. Aber er hat immer gesagt, dass in den Depots des
Museums weitaus mehr schlummert, als man jemals bearbeiten und
ausstellen kann. Daher ist es durchaus möglich, dass die Reste
dieses Tempels – und vielleicht sogar unsere Götterstatue
– dort irgendwo unerkannt vor sich hinschläft.«
    Sie nahm ein Plätzchen und trank einen Schluck Kaffee, der
wahrscheinlich bereits langsam kalt wurde. Ich hatte meine Tasse noch
nicht angerührt; ich war einfach zu aufgeregt.
    »Dann wird uns wohl nichts anderes übrigbleiben, als
nach Trier zu fahren«, sagte ich. »Vielleicht finden wir in
den Depots ja etwas.«
    »Dasch wäre möglisch«, nuschelte Lisa durch
ihr Plätzchen hindurch. Sie schluckte es hinunter, spülte
mit Kaffee nach und lehnte sich zurück; die Handschrift und der
moderne Ausonius-Text lagen noch in ihrem Schoß. »Aber ich
habe nicht die leiseste Ahnung, wie wir uns Zutritt zum Depot
verschaffen sollen.« Sie klappte die beiden Bücher zu und
legte sie neben die Schale mit dem Gebäck.
    Ich bedachte sie mit einem schiefen Lächeln. »Es
wäre doch nicht das erste Mal, dass wir ein bisschen flunkern,
oder?«
    »Diesmal haben wir es aber mit Leuten zu tun, die den
akademischen Betrieb genau kennen. Die werden sich nicht so leicht
hinters Licht führen lassen.«
    »Na, wenn schon! Uns wird bestimmt etwas einfallen, wenn es
soweit ist.«
    Lisa starrte mich erstaunt an. »So kenne ich dich ja gar
nicht, Ralf Weiler. Du willst doch wohl nicht klammheimlich
lebenstüchtig werden?« Sie lachte leise.
    Ich musste ebenfalls lachen. Verdammt, je schlimmer und
aussichtsloser die ganze Sache wurde, desto mehr Spaß schien
sie mir zu machen.
    Ich hatte schließlich nichts mehr zu verlieren.
    Dachte ich.

 
20. Kapitel
     
     
    Es war bereits dunkel, als wir uns von den Lauers verabschiedeten
und hinaus auf die Koblenzerstraße traten. Die Laternen warfen
grelle Lichtinseln zwischen die Alleebäume, deren zartbelaubte
Zweige wie tausendgliedrige Arme in die Nacht griffen. Sie regten
sich in scharfen Luftzügen und erweckten den Eindruck, als
wollten sie uns an sich zerren. Obwohl es noch nicht sehr spät
war, war die Dunkelheit so wattig wie sonst nur in den tiefsten
Nachtstunden.
    Mir gefiel diese Dunkelheit nicht. Wir gingen in die Richtung des
Busbahnhofes am Schlossplatz. Immer wieder schaute ich mich um, weil
ich glaubte, Schritte zu hören -Schritte, die uns verfolgten.
Manchmal sah ich jemanden hinter uns, dann wieder schien er
verschwunden zu sein. In der einen Minute war er so groß wie
ein Haus, in der nächsten

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