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Somniferus

Somniferus

Titel: Somniferus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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hingegen kleiner als ein normaler
Mensch – ein Zirkusgnom vielleicht oder ein zahmer Affe. Ich
schüttelte den Kopf.
    Lisa schaute mich an und fragte: »Was ist los?« Sie
schaute sich ebenfalls um, und eine Sekunde lang glaubte ich in ihrem
Blick ein schreckliches Erkennen zu sehen. Sie rieb sich die Augen,
schaute gehetzt noch einmal zurück, wurde langsamer und
stieß einen leisen Seufzer aus.
    »Gar nichts«, sagte ich. »Meine Nerven scheinen
nicht mehr die besten zu sein. Wir sollten uns beeilen.«
    Wir hatten uns entschlossen, noch am selben Abend nach Trier zu
fahren, damit wir gleich am nächsten Morgen das Rheinische
Landesmuseum besuchen konnten. Als wir am Schlossplatz ankamen,
erreichten wir mit knapper Not den Bus nach Wengerohr. Aufatmend
ließen wir uns in die bequemen Polstersitze fallen. Wir waren
die einzigen Fahrgäste.
    In einiger Entfernung rechts sah ich das Polizeirevier. Nur wenige
Lichter brannten noch hinter den großen Fenstern. Wäre ich
vielleicht in Sicherheit gewesen, wenn man mich eingesperrt und an
dieser verrückten Suche gehindert hätte? Denn jetzt –
in Freiheit – hatte ich immer stärker den Eindruck, dass
uns jemand verfolgte; nein, dass uns etwas verfolgte. Ich
schaute aus dem Fenster; das Polizeirevier war bereits nicht mehr zu
sehen; wir waren schon auf der breiten Straße nach Wengerohr,
die die Landschaft wie ein schartiges Schwert durchschnitt, und ich
sah die Schwärze, die mit uns reiste. Es war wie ein Schatten
mitten in der Nacht, der neben uns – draußen – auf
die Landschaft fiel. Ich schaute verstohlen Lisa an, die neben mir
saß, und bemerkte, dass sie ebenfalls hinausschaute.
    »Siehst du das?«, fragte ich leise.
    »Was?«
    »Diesen Schatten.«
    »Ich sehe keinen Schatten.«
    Es klang zu fest und sicher. Ich verkniff mir weitere Fragen. Was
mir äußerst schwer fiel, denn es war nicht mehr die
Polizei, vor der ich Angst hatte.
     
    * * *
     
    Trier schlief bereits, als wir dort ankamen. Wir gingen unter dem
einsamen Licht der Straßenlampen her. Sie erloschen hinter
uns.
    Eine nach der anderen.
    Lisa und ich sahen einander an. Ein Stromausfall? Warum waren sie
nicht alle auf einen Schlag dunkel? Was kroch da hinter uns her? Instinktiv liefen wir schneller.
    Links von uns grellte ein Leuchtschild. PENSION. Ohne lange zu
überlegen, hasteten wir hinein. Es war keine Sekunde zu
früh. Ich spürte und roch den Luftzug, den fauligen Moder,
der hinter uns vorbeibrauste, als habe das helle Schild ihn
vertrieben. Ich glaubte sogar ein schreckliches Stöhnen zu
hören, das wie in einem unterirdischen Höhlendom hallte.
Die Tür fiel – von einem alten, mächtigen
Schließer zugeworfen – mit lautem Scheppern ins
Schloss.
    Wir standen in einem äußerst hohen, schmalen Gang, in
den vorne links eine Ausbuchtung geschlagen worden war – die
Pförtnerloge. Sie war unbesetzt, doch unser lautes Eintreten
hatte den Pensionswirt geweckt. Mit schlaftrunkenen Augen kam er aus
der Tür, die von der Loge in die Eingeweide des Hauses
führte, und sah uns fragend an.
    »Wir hätten gern ein Zimmer für eine Nacht«,
sagte ich.
    Er sagte zunächst nichts, sondern starrte uns bloß an.
Von oben bis unten. Sicher fragte er sich gerade, ob wir
überhaupt das Geld hatten. Dann murmelte er schleppend, wobei
sich seine dicken, leicht herabhängenden Lippen kaum bewegten:
»Kostet fünfzig Euro. Aber Vorauskasse. Und ohne
Frühstück.«
    Was blieb uns anderes übrig? Ich zog meine Geldbörse
hervor und zählte fünfzig Euro ab. Viel blieb von meinen
Reichtümern nicht mehr übrig.
    Der Wirt zog einen Schlüssel vom Brett, schob ihn mir
über die Theke zu und steckte sich das Geld rasch in die Tasche
seiner fleckigen Hose. »Erster Stock«, brummelte er und
verschwand wieder durch die Tür nach hinten.
    In dem hohen Flur führte eine Treppe hinauf, die mit einem
zerschlissenen Läufer belegt war. Sie knarrte bei jedem
Schritt.
    Meine Gefühle bei diesem Aufstieg hätten gemischter
nicht sein können. Was war vorhin draußen vor sich
gegangen? War es nur eine Sinnestäuschung gewesen? Was geschah
um uns herum? In welchem Netz hatten wir uns verfangen?
    Meine Schritte auf der steilen, schmalen Treppe waren schwer. Noch
etwas anderes lastete auf mir. Wie lange war es her, dass ich mit
einer Frau das Bett geteilt hatte? Ich hatte schlicht und einfach
Angst. Nicht vor Lisa, aber davor, dass ich das Falsche tun
könnte, dass ich mich unangebracht verhalten könnte, und
nicht zuletzt: dass

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