Somniferus
Steinfelder
Höllensturz-Fensters.
»Wir sind auf der richtigen Spur«, sagte ich leise.
»Wie finden wir jetzt die richtige Textstelle heraus? Und vor
allem: Wie sollen wir diese komischen Buchstaben
entziffern?«
»Das sind ganz normale gotische Majuskeln«, sagte Lisa.
Ich schaute sie verblüfft an. »Kannst du sie etwa nicht
lesen?«, fragte sie und lächelte mich schelmisch an.
Ich schüttelte den Kopf. »Du etwa?«
»Glaubst du vielleicht, dass wir Eifeler allesamt Dumpfbacken
sind?«, sagte sie so laut, dass Lauer sie verstehen konnte. Er
sah sie an und lächelte stolz. »Lass mal sehen. Also, die
erste Zeile lautet: TRANSIERAM CELEREM NEBULOSO FLUMINE NAVAM, was
soviel heißt wie… äh… ›ich bin
hinübergegangen über den nebelverhangenen Fluss‹…
na ja, oder so ähnlich…«
Ich musste grinsen. Endlich hatte ich sie einmal dabei erwischt,
dass sie etwas nicht wusste. Aber meine Erheiterung war kurzsichtig.
Wenn sie den Text nicht korrekt zu übersetzen vermochte –
was ich ihr beileibe nicht vorwerfen konnte –, wie sollten wir
dann an die Informationen kommen, die wir suchten? Vor allem: wie
sollten wir die Abweichung zum sozusagen »offiziellen« Text
herausfinden? Ich sagte es ihr.
Sie faltete die Hände zu einem Dach und legte das Kinn auf
die Fingerspitzen. »Das ist wirklich ein Problem, an das ich
noch gar nicht gedacht habe«, gestand sie.
Ernst Lauer hatte inzwischen wohl gemerkt, dass wir keine
Bücherdiebe waren. Nachdem seine Frau uns etwas Gebäck und
den versprochenen Kaffee gebracht hatte, verließ er zusammen
mit ihr den Raum. Jetzt fühlte ich mich besser; ich hasse es,
wenn ich beobachtet werde.
Lisa schien kaum bemerkt zu haben, dass unser Gastgeber fort war.
Sie dachte immer noch nach. Schließlich stand sie auf, ging zu
dem Schränkchen mit den Karteikarten und blätterte in ihnen
herum. Dann lief sie zu einem Regal, schlug einige Bücher auf
– Reinhardt Lauer hatte die Signaturen mit Bleistift in die
Innendeckel geschrieben; kein Bücherliebhaber würde sie
außen auf den Rücken kleben – und kehrte
schließlich mit einem kleinen, in Leinen gebundenen Buch zu
ihrem Sessel zurück. Sie ließ sich fallen und schlug den
Band auf. Dabei sagte sie: »Habe ich mir doch gedacht, dass der
alte Lauer eine Übersetzung des Textes hatte. Das hier ist eine
deutsch-lateinische Parallelausgabe. Hier haben wir die erste Zeile:
Korrekt müsste es heißen: ›Über die eilige Nahe
war ich im Nebel gekommen.‹ Da war ich doch gar nicht so
schlecht, oder?«
Ich nickte und sagte: »Aber wie finden wir die Abweichung im
Text? Irgendwo muss sie sein, denn sonst gäbe es ja diese
seltsame Initiale nicht.«
»Richtig. Und daher wird uns nichts anderes übrig
bleiben, als die Handschrift Zeile für Zeile mit dieser
gedruckten Ausgabe hier zu vergleichen.«
»Genau das hatte ich befürchtet«, brummte ich.
»Also an die Arbeit.«
»Gib mir mal die Handschrift rüber«, meinte
Lisa.
»Ich fürchte, dass ich diese Aufgabe allein
durchführen darf, weil du ja nicht lesen kannst.« Sie
lächelte mich amüsiert an. Darauf konnte ich nichts
entgegnen. Also stand ich auf und stöberte etwas in den
Bücherschätzen herum, die die Pretiosen meines Onkels in
den Schatten stellten.
Schon nach kurzer Zeit sagte Lisa ganz laut:
»Jawohl!«
Ich stellte das Buch, das ich gerade in der Hand gehabt hatte,
wieder ins Regal – es war eine Ausgabe von Remys Daemonolatreia gewesen – und sah sie fragend an.
Sie schaute auf zu mir, warf dann wieder einen Blick in die beiden
Bücher auf ihrem Schoß und sagte: »Ich glaube, ich
habe es gefunden. Schon ganz vorne gibt es eine Abweichung. Hör
dir das an. Im Original, also im offiziellen Text steht: … ET
TANDEM PRIMIS BELGARUM CONSPICOR ORIS / NOIOMAGUM, DIVI CASTRA
INCLITA CONST-ANTINI. Dann geht es weiter: PURIOR HIC CAMPIS und so
weiter. In der Handschrift steht nach CONSTANTINI allerdings kein
Punkt, sondern ein Komma, und es folgt ein zweiter Satzteil: OBSCURI
TEMPLUM INCLITUM DEI SOMNII SOMNIQUE SOMNIFERI / CAPUT HUIUS IN CAELO
NUBILI PENDET FEMURES QUASI COLUMNAS TERRO-RES PRAESENTIAE SUAE
PORTANT.«
»Ich habe verstanden, dass es um Somniferus geht«, sagte
ich, »aber was heißt der Rest?«
»So wie ich es übersetze, heißt es: ›…
der ruhmreiche Tempel des erhabenen Gottes des Traumes und der Nacht,
dessen Haupt im umwölkten Himmel schwebt und dessen
Oberschenkel‹ – ich glaube, es heißt Oberschenkel,
vielleicht heißt es aber auch
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