Somniferus
Zelle ein Telefonbuch.
Es gab nur eine einzige Eintragung unter dem Namen Lauer, Ernst.
Wir wählten die angegebene Nummer; es meldete sich eine
Frauenstimme. Ich fragte, ob Herr Ernst Lauer anwesend sei.
Die weibliche Stimme antwortete: »Mein Mann ist noch in der
Firma; er kommt erst in einer halben Stunde nach Hause. Soll ich
Ihnen die Durchwahl geben?«
Ich bat darum und rief Herrn Lauer dann in »der Firma«
an; wie es sich herausstellte, handelte es sich um einen
Dachdeckerbetrieb, dessen Chef er war. Als ich ihn endlich am Apparat
hatte – seine Sekretärin war ein Fels, an dem ich beinahe
zerschellt wäre –, fragte ich ihn zunächst, ob sein
Vater Reinhardt Lauer gewesen sei.
»Ja«, antwortete er, »warum wollen Sie das
wissen?«
»Ihr Vater hat alte Bücher und Handschriften
gesammelt?«
»Stimmt, aber jetzt sagen Sie mir endlich, warum Sie mich
anrufen, sonst lege ich auf!«
Sollte ich ihm wirklich die ganze Geschichte erzählen? Dann
hätte er erst recht aufgelegt. Also entschloss ich mich zu einer
Notlüge. »Wir sind zwei wissenschaftliche Mitarbeiter von
der Universität Köln und schreiben eine Abhandlung
über verschiedene Varianten alter Ausonius-Handschriften. Vom
Auktionshaus Jäger in Köln haben wir erfahren, dass Ihr
Vater Eigentümer einer solchen Handschrift war, die
überdies eine interessante Interpolation besitzt.«
»Mein Vater ist schon lange tot«, unterbrach mich Lauer.
Ich konnte seine Ungeduld durch die Telefonleitung spüren.
»Das wissen wir«, fragte ich, »und wir wollen Sie
nur fragen, ob Ihnen bekannt ist, wo diese Handschrift nach dem Tode
Ihres Vaters hingekommen ist.«
»Sie sind ja wohl mächtig scharf auf diese alte
Schwarte«, schnaubte Lauer.
»Das stimmt«, gab ich zu. »Sie wäre das
wichtigste Stück in unserer Abhandlung. Dürfen wir
erfahren, wo sie sich befindet?«
»Das gute Stück ist nirgendwohin gekommen. Ich habe die
ganze Sammlung meines Vaters behalten. Ich kann diese alten,
stinkenden Scharteken zwar eigentlich nicht ausstehen, aber ich habe
seine Bibliothek so gelassen, wie sie war – aus Pietät,
wenn Sie so wollen.«
»Dürften wir Sie einmal besuchen und einen Blick in
diese Handschrift werfen?«, bettelte ich.
»Na ja«, sagte Lauer an anderen Ende lang gedehnt.
»Ich kenne Sie ja gar nicht. Eigentlich mache ich so etwas
nicht.«
»Sie könnten natürlich dabeibleiben. Wir wollen die
Handschrift nicht ausleihen, sondern nur bei Ihnen an Ort und Stelle
einsehen. Und Sie können uns gern bei der Arbeit zusehen. Wie
gesagt, es geht um eine Auswertung, die für die Wissenschaft
sehr wichtig ist.«
»Ich weiß nicht«, sagte Lauer. Dann, nach einer
Pause: »Was soll’s, mein Vater hätte Ihnen sicherlich
geholfen. Er war immer so stolz, wenn er jemandem seine Schätze
zeigen konnte. Passt es Ihnen heute Abend, sagen wir um
sechs?«
»Sehr gut sogar«, sagte ich erleichtert, bedankte mich
freundlich und hängte ein.
* * *
Kurz vor sechs standen wir in der Koblenzerstraße 19. Die
Zeit bis dahin hatten wir in einem Café verbracht, ohne von
irgendwem erkannt oder behelligt worden zu sein.
Das Haus der Lauers war eine Gründerzeitvilla, an der sich
rötlicher Sandstein mit strahlend weißem Verputz
abwechselte. Villa Else stand in goldenen Frakturlettern an
der Fassade. »Nicht übel«, murmelte Lisa. Wir
drückten das schmiedeeiserne Tor auf und gingen durch einen
kleinen Vorgarten zur Haustür, die sich wie beim Haus der
Adolphis in der linken Seitenwand befand. Wieder ein großes
Haus, wieder eine Bibliothek, die mich erwartete, wieder ein
Todesfall, der jedoch schon fast dreißig Jahre
zurücklag.
Lisa schellte. Dann sah sie mich an und bemerkte meine
Unsicherheit. Sie nahm einfach nur meine Hand und drückte sie
leicht. Mir war, als hätte ich in eine Stromleitung gefasst. Sie
wusste so gut, wie sie mir Kraft geben konnte.
Die Haustür wurde geöffnet. Vor uns stand ein massiger
Mann mit weichendem Haar und einem riesigen Schnauzbart, der an den
Spitzen traurig herabhing. Die hellwachen blauen Augen musterten uns
eingehend und mir wurde wieder einmal bewusst, welch ein
erbärmliches Bild wir abgaben. Ein Bad und frische Wäsche
hätte uns nicht geschadet, aber beides war erst einmal
unerreichbar für uns.
Fast befürchtete ich, dass Ernst Lauer uns nach dieser
Examinierung die Tür vor der Nase zuschlagen würde, doch
schließlich – man konnte deutlich sehen, wie er nachdachte
–, zog er die Tür noch weiter auf,
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